Meine Frau und ich geben gelegentlich Dinge, die wir nicht mehr benötigen – oder vielleicht nie wirklich benötigt haben – in einem Sozialkaufhaus in der nächsten Großstadt ab. Bei dieser Gelegenheit stöbern wir natürlich auch durch das Ladenlokal und schauen, ob wir dort nicht im Gegenzug etwas finden könnten, um den Platz, den wir zuhause geschaffen haben, wieder zu füllen. Ein bisschen zumindest. Wenn man zuhause zu wenige Dinge und zu große Leere hat, dann ist das wirklich beunruhigend. Da braucht’s halt schnell mal was Neues.
Bei einer dieser Gelegenheiten schlenderte ich durch die Bücherabteilung. Meine Gedanken kreisten seit einigen Tagen um die Email einer Freundin. Ich hatte ihr vorher mitgeteilt, dass sich in meinem Leben Veränderungen anbahnen. Dass ich handeln werde. Nun fragte sie mich in ihrer Mail, was ich denn konkret vorhabe. – Und ich wusste darauf keine Antwort. Gerne hätte ich ihr geantwortet: „Das und das und das werde ich tun. So und so und so habe ich es vor.“ Aber ich konnte es nicht und war darüber unglücklich.
Nun schlenderte ich mit diesen Gedanken durch die Bücherregale und meine Augen fielen auf ein Buch. Es war eher ein Heft. Keine zwei Zentimeter dick. Mit einem braunen Pappeinband. Eine aufsteilende Schwalbe in der rechten oberen Ecke. Nur die Silhouette. Wie mit der Hand geschrieben stand darauf der Titel: Wing Borne. – Wing Borne! Auf Flügeln getragen. Leise und behutsam nahm ich das Buch in meine Hände. Wing…Borne… Ich schlug es auf. Es waren vielleicht zwanzig Seiten aus dickem, handgerissenem, farbigem Papier. Jedes Blatt mit einem wunderbaren Naturmotiv als Linoleum-Druck versehen. Alles wie von Hand gemacht. Dazwischen Text. Gedanken. Über das Leben. Die Natur. Mit vielen „- – – -“ und vielen „….“. Gedankenpause. Offenen Enden. Wo die Worte nicht mehr reichten. So wie ich auch oft schreibe. Auf der ersten Seite – ganz, ganz klein – stand: „blockprints and words by Gwen Frostic. Copyright 1967. Presscraft Papers. Michigan.“Ganz klein wie mit einem harten und spitzen Bleistift hinein gekritzelt stand es da ganz, ganz unten auf der Seite. Die Buchstaben zweieinhalb Millimeter hoch. Fast nicht zu entziffern. So als wären diese Angaben eine notwendige Formalität, die aber mit dem Werk selber nichts zu tun hätten. Ja eher stören würden, wenn sie mehr Raum einnehmen würden, als sie es so schon tun. Der Verlag. Das Copyright. Selbst der Schöpfer dieses Werkes war nicht von Bedeutung. –
Ich nahm das Buch mit nach Hause. Es kostete mich einen Euro. – Copyright 1967….Ich war neugierig auf die Schöpferin dieses Werkes. Konnte ich mehr über sie erfahren? Fast fünfzig Jahre später? Ich befragte das Internet und war erstaunt: Presscraft Papers war ihr eigener Verlag – und er existierte noch!
Auf der Webseite des Verlages war ein eigenartiges Haus zu sehen. Mitten in der Wildnis. Wie in die Natur eingebettet. Natur. Gar kein Haus. Nicht zu beschreiben. Dort hat sie geschaffen, produziert, verkauft und gelebt. Wer war diese Frau? Ich fand einen Artikel über sie aus den späten neunziger Jahren. Sie wurde 1906 geboren und hatte im Alter von 8 Monaten ein mysteriöses Fieber, das sie gelähmt an den Beinen und einem Arm und mit einem nach rechts neigenden Kopf zurückgelassen hatte.
Sie studierte und lehrte in jungen Jahren bildende Kunst. Schnitt Kunstwerke aus Kupfer und anderen Metallen und stellte eine Schale für die Weltausstellung in New York her. Da sie zu der Zeit kein Geld hatte, konnte sie nicht selbst nach New York fahren und sie sich dort anschauen. Danach hat die Schale bei ihr im Lager rumgestanden. Sie hatte sie nicht mehr interessiert.
Während des zweiten Weltkrieges wurde alles Metall für die Rüstungsindustrie benötigt. So entschied sie – sich der Situation anpassend -, auf Linoleumschnitt zurück zugreifen. Und sie blieb dabei.
Gwen Frostic kaufte sich eine Presse, lernte sie zu benutzen und begann mit den ersten Drucken im Keller ihres Elternhauses. Nach einigen Jahren entschied sie sich, umzuziehen und ein Geschäft in einem Touristenort, Frankfort in Michigan, zu eröffnen. Alle in ihrer Familie dachten, sie mache Witze und dass sie mit ihrer Behinderung doch gar nicht umziehen könne. Dann stand der Möbelwagen vor der Tür und Gwen Frostic zog um. Sie gründete Presscraft Papers und eröffnete ein florierendes Geschäft mit selbstgeschaffenen Druckwaren. Die Zahl ihrer Mitarbeiter wuchs.
Im Alter von 60 Jahren entschied sich Gwen Frostic erneut umzuziehen. Sie kaufte 30000 Quadratmeter Land in der abgelegenen Wildnis Michigans und begann dort ein Haus zu bauen. Sie steckte mit einem Freund das Haus mit vier Pfosten ab und als ein örtlicher Farmer vorbei kam und sagte, sie solle das Haus doch größer machen – da machte sie es eben einfach größer. Sie ließ sich Felsbrocken liefern, die unbehauen als Wand über einander geworfen wurden. Sie sollten liegen, wie sie fielen. Einen Architekten brauchte sie nicht. Als im Haus eine Quelle freigelegt wurde, dann blieb dort eben eine Quelle im Haus.
Alle erklärten sie für verrückt, als sie dann ihre Produktion und ihren Laden aus der besten Lage in Frankfort mitten in die abgelegene Wildnis verlegte. Wer soll da denn hinkommen!? Niemand begriff ihren Lebens- und Businessplan. Vielleicht sie selbst auch nicht. Nicht im herkömmlichen Sinne. Vielleicht wusste sie etwas auf einer anderen Ebene.
An diesem Ort blieb sie, bis sie einen Tag vor ihrem 95sten Geburtstag aus dem Leben schied. An diesen Ort kamen die Menschen. Viele von ihnen Jahr für Jahr. An diesen Ort, den sie geschaffen hatte. Zu ihr. Zu einer anscheinend scharfzüngigen Kratzbürste. Sie kamen zum Reden, zum Einkaufen und einfach, um dort zu sein.
Das Wagnis in der Wildnis ging auf. Gwen Frostic starb als Millionärin. Wahrscheinlich war ihr Leben für sie niemals ein Wagnis gewesen und sie in ihren Augen niemals behindert. Sie war Wing Borne. Selbst, wenn sie es nicht hätte erklären können, sie hatte eine Ahnung von ihrem Weg, der so anders war, als die herkömmlichen Menschenwege. Sie war körperlich eingeschränkt, aber mit gesegneten Flügeln geboren. Dabei war sie trotzdem keine großzügige Chefin und freundliche Geschäftsfrau. „Sie glaubte nicht an Kaffeepausen. Und das Gehalt war immer das geringste, was sie durchsetzen konnte.“ sagte mal ein Angestellter.
Wer Wing Borne ist, der steht außerhalb der Vorstellungen der Menschen über richtig und falsch. In jeder Beziehung. Ist man Wing Borne, dann steht der eigene Name ganz, ganz klein im Buch des Lebens. Dann hat er jede Bedeutung verloren und ist nur noch eine anhängende Formalität. Man geht aus der Welt der Namen in die Welt des Nichtfassbaren. Und dort liegt dann der Ursprung des Handelns. Und dieser Ursprung ist nicht mit den Maßstäben der Welt der Namen und der Dinge auszuloten. – – – –
Nun wusste ich, was ich meiner Freundin antworten wollte: „Ich weiß, was ich tun werde. Aber ich weiß nicht, was es sein wird…..“