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Schubladen

Einmal aus den Augen eines Säuglings schauen können! Einmal die Welt in dieser Unbeeinflusstheit wahrnehmen dürfen. Ohne ein vorheriges: „Das ist so, dies ist so und so ist der Name dafür. Und der Name hat seinen Grund in den Eigenschaften dessen, was Du Dir gerade anschaust und diese Eigenschaften beruhen darauf, dass…. bla, bla, bla, bla,……..“ Ohne das. Einmal wieder sehen dürfen mit der Wahrnehmung des gerade erst geschaffenen Geschöpfes, das vor Kurzem noch zum einen Teil Erde und zum anderen Teil Jenseits war und jetzt gerade erst durch das wunderbare Zusammenführen von Ding und Nicht-Ding zum Wesen geworden ist.

Vielleicht können wir uns noch tief in uns daran erinnern.

Nun sind wir aber mittlerweile voller Wissen über unsere Umwelt. Und da unser Verstand derjenige ist, der dieses Wissen sammelt, ist es ausschließlich dinglicher – materieller – Natur. Er sammelt und sammelt. Er benennt und benennt. Er zerteilt und zerteilt. Das Ding, die Welt, den Raum, die Zeit. Ohne Unterlass. Nichts darf ganz bleiben. Oberkategorie, Unterkategorie, Unterunterkategorie, und so fort. Hat er etwas zerteilt, so stellt er es wieder in Zusammenhang mit anderen zerteilten Aspekten von etwas anderem und vergleicht es. Er selbst erzeugt ein unbeschreibliches Durcheinander und beklagt sich über das Chaos, das angeblich in der Natur herrsche.

Nun muss das Klein-Klein, das er gesammelt und die Zusammenhänge, die er erkannt haben will, irgendwo hin. Dahin, wo sie nützlich sind. Dafür gibt es dann in jedem von uns die Schubladen. Diese Schubladen bekommen einen Namen. Zum Beispiel „Baum“ (Dabei bleibt es natürlich nicht. Es gibt dann Schubladen namens „Eiche“, „Stamm“, „Wurzeln“, „Ast“, „Blatt“ usw.) oder „Schamane“ oder – ganz fatal – „seelische Erkenntnis“ oder „Sinn“.

In diese Schubladen wird dann alles gepackt, was unser Verwalter der dinglichen Welt in der Vergangenheit erkannt und dem Namen dieser Schublade zugeordnet hat. Dieses alles wird darauf hin zur Wahrheit. Zur persönlichen oder auch allgemeinen. Zum Beispiel die Verbindung Baum = Brennholz oder Möbel. Oder Boot.

In vorindustrieller Zeit gab es für die Menschen auf dem Lande nicht so überaus viel einzusortieren. Ihr Aktionsradius war begrenzt. Die Wahrnehmungen der Umwelt irgendwann weitestgehend gemacht. Und ihre außergewöhnlichste Schublade war vielleicht die der Bewohner des übernächsten Dorfes, das sie nie besucht hatten. Diese Schublade wurde vielleicht nur von Reisenden mit mehr oder minder zuverlässigen Informationen über die geheimnisvollen Nachbarn bestückt. Die Schubladen waren also klein, wenige und nicht besonders voll. Gehen wir in der Zeit noch weiter zurück, zu den Jäger und Sammlern – unseren Vorfahren – zum Beispiel, dann können wir sagen, dass es eine Zeit gab, in der alle Menschen auf der Welt nur wenige, kleine und ziemlich übersichtliche Schubladen besessen haben.

Dies hat sich geändert. In unserer heutigen Zeit ist das Angebot an Informationen so groß, dass viele Schubladen einerseits bereits überquellen und andererseits auch noch völlig wahllos befüllt werden. Sie beinhalten jetzt nicht nur noch eigene vergangene Erfahrungen und Lernwissen, das ein Verstand dem anderen vermittelt hat, um sich in der Welt der Dinge zu recht zu finden. Nein. Heute beinhalten die Schubladen Meinungen über Meinungen, aus den 300 Fernsehkanälen, aus den 100000000 Meinungsseiten im Internet. Alles wird kommentiert, jeder gibt seinen Senf ab und jeder liest es, nimmt es in seinen Schubladen auf, eröffnet neue, muss diese zwangsläufig wieder mit anderen Schubladen irgendwie in Zusammenhang setzen und verliert langsam aber sicher jegliche Orientierung. Denken Sie an den esoterischen Verlagskatalog weiter oben.

Das Konzept der Schubladen läuft heiß. Hatte es ursprünglich den Sinn, Erfahrungen abzuspeichern, die dem dinglichen Verstand helfen sollen, in der dinglichen Welt halbwegs zu überleben, so führt es sich mit seiner Überfüllung selbst ad absurdum. Der an sich schon auf irrigen Annahmen beruhende Wunsch nach maximalem Wissen scheitert an unserer eigenen Begrenztheit.

Auch, wenn ich den Schubladen eine Existenzberechtigung zugestehe: Das Konzept kommt über die Dinge nicht hinaus, weil der Verstand über die Dinge nicht hinaus kann. Er behauptet zwar vehement, dass er Fakten – Tatsachen – sammle, aber durch seine Schubladen und seine Verknüpfungen und das Herstellen von Zusammenhängen ist es doch eigentlich er, der dadurch Interpretation erst ermöglicht. Durch Interpretation erzeugt er Meinung. Mit Meinung erzeugt er Gefallen und Missfallen, erzeugt er erst Richtig und Falsch. Er erzeugt das Chaos, das er so sehr verachtet, selbst. Er erzeugt die subjektive Vorstellung, die mit Fakten nichts mehr zu tun hat, von Dingen oder Begebenheiten selbst.

Nehmen wir einfach einmal die Schublade „Tibet“. Die Tibet-Schublade ist mit so vielen Vorstellungen, Wünschen, Sehnsüchten, Meinungen, Urteilen, Vorurteilen und Bildern gefüllt, dass die westliche, daraus zusammengesetzte Vorstellung von diesem Land und seiner Gesellschaft zu einem großen Teil als Phantasieprodukt – als subjektive, aus Schubladeninhalten zusammengesetzte Vorstellung – anzusehen ist. Das gilt nicht nur für Tibet. Das gilt auch für Haarshampoo.

Und dabei reden hier wir eigentlich nur von Dingen. Wir reden von dem Bereich, von dem der Verstand behauptet, er hätte sie voll im Griff und die Welt läge klar vor ihm.

Ich muss sagen: Die Einheit unserer Existenz zu erfassen, scheint mir eigentlich viel leichter… Es ist in keiner Weise so kompliziert, wie durch Zerteilung den Sinn der Welt erfassen zu wollen. Aber vielleicht liegt es genau daran, dass es vielen so schwer zu sein erscheint. Es ist zu einfach. Einfach und simpel darf heutzutage nichts mehr sein. Ohne Komplexität keine adäquate Funktion.

Selbst von einer renommierten Zeitung wurden vor einigen Jahre die Ratschläge, die der Dalai Lama während eines Besuches in Deutschland zur Lebensführung gab, als banal abgestempelt. So simpel seien sie, dass es des Rates anscheinend gar nicht bedurft hätte. Nur hat die Zeitung sich enthalten zu erklären, warum kein Mensch sich an diese einfachen Ratschläge hält, wenn sie doch so altbekannt erscheinen. Vielleicht hätte der Dalai Lama diese Ratschläge (unter anderem gesund zu essen und genug zu schlafen) mit einer komplexen yogischen Übung verbinden sollen. Möglicherweise hätte das den Wunsch des Artikel-Autors nach einem höheren Grad an Kompliziertheit (und vielleicht auch an Exotik) befriedigt. Ich bin kein Dalai-Lama-Anhänger oder Tibet-Aktivist. Dieser Zeitungsartikel ist nur ein Beispiel, das mir seinerzeit beim Lesen augenfällig geworden ist. Die fürs Feuilleton zu simplen Ratschläge hätten auch von jemandem ganz anderen kommen können und ich hätte sie zitiert. Ich habe übrigens drei Mal nachgelesen, wie „Feuilleton“ geschrieben wird. Mein Verstand wollte unbedingt diesen trennenden und abgrenzenden Fach-Begriff verwenden. Weil er ein wenig sauer war. Dumm, nicht wahr?

Ich wollte aber noch kurz auf die Beispiele von Schubladen eingehen, die ich Anfangs genannt habe.

Schublade „Baum“: Holz, verschiedene Anwendungsmöglichkeiten für Holz, Wurzel, Photosynthese, Braun, Grün, Wälder, Höhe, Umfang, Alter, Wasser, Sauerstofferzeugung, CO2-Speicherung, Schatten, „Buchen sollst Du suchen, Eichen sollst Du weichen“, „Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum…“ usw.

Mit diesen Informationen bleibt der Baum ein Ding. Er bleibt genau so ein Ding wie auch wir es in einem solchen Zusammenhang dann sind. Irgendwann existierend. Dann, nach gewissen Jahren, wieder verschwunden.

Den Baum nicht mehr als „Schublade Baum“ sehen. Ihn anzuschauen und dabei – möglichst – leer von diesen Vorstellungen sein, das ist einen Versuch wert. Ihn erkennen als …Nichts. Oder als …Alles. Er ist genau so ein Ausdruck der jenseitigen Geschehnisse, wie wir auch. Er ist Ding gewordene Seele. Das, was wir als seine Eigenschaften sehen, ist der Ausdruck der jenseitigen Begebenheiten – vom Verstand reduziert auf das Klein-Klein, das er zu erkennen meint.

So wie der Schamane in die jenseitige Welt reisen und dort etwas….irgendetwas…..nichts… tut, um eine Veränderung in der materiellen Welt zu erzeugen. Er tut dies in einem großen Gebet. Denn etwas anderes ist die Seelenreise nicht. Es ist das große Gebet um Heilung. So geschieht dies auch immer und überall ohne das Zutun eines bewusst Seelenreisenden. Durch unsere Beseeltheit sind wir alle immer Seelenreisende. Selbst ein gutes Wort (oder ein böses) verändert für den Betroffenen die Welt auf der Ebene seiner Seele. Es geht ihm besser, er fühlt sich stärker – oder schlechter. Im Schamanischen gewinnt oder verliert er so einen Teil seiner Seele.

Das vorbehaltlos zu erkennen wird durch den beschränkten und rein materiellen Inhalt unserer Schubladen verhindert.

Oben habe ich noch als Schubladen-Beispiel „Schamane“ angeführt. Es ist mir immer eine Freude und auch ein gewisser Zwang, dieser Schublade immer wieder auszubrechen. Nun ist das leicht. Ich bin kein Schamane. Ich lebe in keiner schamanischen Gesellschaft. Im besten Fall praktiziere ich schamanische Techniken. Jeder, der erkannt hat, wie er etwas genauer hinschauen kann, wäre dann ein Schamane – und es gibt viele, die hinschauen können.

Die meisten lernen wir nicht kennen. So entfernt sind sie davon, im Irdischen wirken zu wollen und mit ihrem Wissen hausieren zu gehen. Die schreiben bestimmt keine Bücher. Sei es drum.

„Schamane“ ist das Etikett (auf einer Schublade), das ich erst einmal verpasst bekomme, wenn die Menschen die Informationen, die sie über mich sammeln mit ihren Schubladeninhalten abgleichen. Wenn sie mich dann treffen und mit mir reden, dann sind einige – besonders die, die meinen, besonders wohl sortierte und umfangreiche Schubladen bezüglich Schamanen und vergleichbaren Personen angelegt zu haben – irritiert. Es stellt sich für sie heraus: Der Typ ist ja noch unter 60. Er war nie in Nepal oder in Nordamerika bei Sun Bear oder Tall Bull oder in Mittel- oder Südamerika bei jemandem dessen Name meistens mit Don beginnt und mit etwas wie da Cruz oder da Jesu endet. Er hat kein faltiges Gesicht mit gütigen oder stechenden Augen, trägt keine Amulette (ES GEHT GAR NICHT OHNE SCHUTZAMULETTE! Das weiß doch jeder der Fernsehen guckt!) – sondern Kleidung von der Stange – , wenigstens hat er eine Trommel! Aber die ist ja nicht einmal selbstgebaut. Befragt man ihn zu den aktuellen Fragen von Energie und Schwingungen und Maya-Kalender, Christus-Gebet, holothropes Atmen und anderem, so sagt er entschuldigend: „Darüber weiß ich leider nichts.“ Nennt man die aktuell in Deutschland reisenden Heiler und spirituellen Lehrer, so sagt er in der Regel: „Die kenne ich leider nicht. Nein, ihr neuestes Buch auch nicht.“ Er starrt nicht ein einziges Mal leer in die Gegend und sagt auch keine besonders rätselhaften Dinge und erzählt auch nicht gelegentlich, dass er irgendwo in der Ecke gerade seinen Großvater sitzen sieht. Aber wenigstens einen Bart hat er! Aber der ist irgendwie auch etwas zu kurz geraten. Denn bei Schamanen hat der Bart ja immer die Bedeutung, dass…….laaa, laaa, laaa….

Zur Beruhigung möchte ich entgegnen: Ich starre oft leer in die Gegend. Und mir werden häufig rätselhafte Dinge zu teil. Aber dies muss ich nicht vor Publikum tun und über alles reden muss ich auch nicht.

Menschen mit diesen Schubladen-Inhalten verlieren – lernen sie mich kennen – schlagartig ihr Interesse an mir. Da ich dem Schubladen-Schamanen nicht entspreche, komme ich dann – so scheint mir – in die „wieder einer von diesen Typen, die keinen blassen Schimmer haben und meinen sie hätten irgendetwas gesehen“-Schublade. Wenn ich diese Menschen wieder treffe, dann können wir uns nett unterhalten, aber es wird in keiner Weise versucht, mit mir erneut ein Gespräch über spirituelle Themen zu beginnen. Ich bin dann kategorisiert, in der Schublade gut verstaut und unten durch. Ich bin dann so froh. Ich bin immer froh, wenn ich als normaler Typ wahrgenommen werde. Es ist gut, unbeachtet zu sein.

Und noch ganz kurz zu den beiden anderen Schubladen-Beispielen vom Anfang: „Seelische Erkenntnis“ und „Sinn“. Ich glaube es reicht dazu ein Satz: Wenn wir diese beiden Dinge suchen und verlassen uns dabei auf das, was uns die vom Verstand zusammengetragenen Schubladeninhalte dazu sagen, dann sind wir verraten und verkauft.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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