„Was machen Eure Pläne, mit dem Gartenland? Wollt Ihr jetzt nächstes Jahr welches pachten?“ fragt Eva. Ich schweige auf ihre Frage noch ein wenig und lasse den Blick, meine Gedanken sammelnd, blinzelnd über die in der tiefen Novembersonne schwarz leuchtenden Äcker schweifen. Sie wurden bereits gepflügt, dann geeggt und ein neuer Same wurde ihnen eingepflanzt. In ein paar Tagen wird man das erste Grün der Wintergerste erkennen können.
Wir sind auf einem Nachmittagsspaziergang. Der Hund forderte seine Bewegung und wir sind dem gerne gefolgt.
„Wir haben da noch nichts unternommen.“ sage ich, meine Worte langsam und bedächtig wählend. „Uns scheint es, dass wir nicht mehr so lange hier sein werden. Es hat keinen Sinn, sich dann hier noch zu verpflichten. Die Zeit des Rückzugs scheint vorbeizugehen. – – Die Jahre im Wald waren die Jahre der Erde; den Blick immer nach unten gerichtet. Behütet, getragen und genährt. Wurzeljahre. Passiv.“ versuche ich zu erklären, was sich nicht erklären lässt. „Es scheint jetzt die Zeit des Himmels zu kommen. Aktiver, strahlender. Wir scheinen nach außen gehen zu müssen. An einen Ort wo sich der Himmel über uns spannt und wir zu allen Seiten den Horizont sehen können. An dem wir weit blicken können. An dem wir im Licht stehen.“
Meine Antwort scheint wortreicher, als es Evas einfache Frage eigentlich zu benötigen scheint.
„Mhh.“ sagt Eva. Sie scheint zu wissen, was ich andeute. Vielleicht haben wir es schon einmal vage erwähnt. Mehr möchte sie anscheinend nicht dazu sagen. Mehr zu erwidern würde bedeuten, sich aktiv mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass ihre Freunde gehen könnten. Zudem weiß sie, dass ich zu Himmel und Erde viel zu sagen habe. Eva mag das nicht so sehr, wenn andere Leute mehr wissen könnten als sie. Sie verliert dann die Kontrolle über das Gespräch und hat Sorge, dass es ihr entgleitet. Sie könnte dann einfach weniger wissen und dann im Gespräch unrecht haben oder es könnten Dinge berührt werden, die sie lieber ruhen lassen möchte. Eva redet gerne über Sachverhalte, von denen sie sicher sein kann, dass ihr Gegenüber wenig bis nichts davon versteht. Dies tut sie dann lang, ausführlich und dozierend. Die sichere Art, den Anschein einer Unterhaltung zu erwecken und alles unter Kontrolle zu behalten. Eine gespielte Unterhaltung. Nach meiner Antwort wird sie es bereits bereut haben, mich überhaupt gefragt zu haben. Die von mir herbeigeführte Gesprächswendung – extra wortreich – vom Sachlichen zum Seelischen war für sie nicht vorhersehbar und kann, für sie nicht mehr kontrollierbar, sonst wo hinführen. Gerade, wenn sie mich zu Wort kommen lässt. Da besser „mhh“ und das Thema beenden. Ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass ihr dieser Spaziergang jetzt nicht mehr ganz so gut gefällt.
Nach ein paar Sekunden des Schweigens sage ich: „Das Gartentor ist auch schon kaputt.“ Ich sage das bewusst. Ich will Eva in eine kleine Falle tappen lassen. Eva lacht leise auf. Sie ist einer dieser Menschen, die ihre haarfeinen Seelen-Sinne – die, wären sie frei, Wunder vollbringen könnten – hinter einem Übermaß an Verstand verbarrikadieren. Der „beste“ „Schutz“ vor emotionaler Verletzung. So bleibt der Ausdruck ihrer Ängste und Sorgen nur ein kurzes „mhh“, aber jetzt beim Gartentor kann ihr Verstand auftrumpfen. Und sie setzt an, mir auseinanderzusetzen, warum die Vergänglichkeit des Gartentors denn nun wirklich nicht dazu herhalten kann, einen Umzug zu begründen: „Du kannst es ja reparieren.“ Entgegnet sie mir lehrerhaft. „Oder wenn Du damals haltbareres Material verwendet hättest und wenn…“ Schlaumeiert sie weiter. Sichtlich erleichtert, die Kurve zum Sachlichen und Logischen noch rechtzeitig gekriegt zu haben. Sie ist in der Offensive und hat wieder alles unter Kontrolle. Ich weiß, dass sie Bücher hat, in denen auch der Bau von Toren beschrieben wird.
Ich kenne diese belehrenden „Wenn…, wenn…., wenn…“-Ketten von Eva und bin manchmal wirklich wütend auf sie. Nicht, weil sie mich durchgehend belehrt, sondern weil sie hinter diesem scheinbar sicheren Hafen ihrer logischen Argumente einen großen Teil ihres Wesens verkümmern lässt. Weil sie bis ins letzte Gesprächsthema hinein jede Wendung kontrollieren muss – selbst um den Preis, dass sie das gesamte Gespräch alleine bestreitet. Wenn kein anderer redet, dann hat sie die völlige Kontrolle. Sie bemerkt meine Wut aber selten und wenn, dann begreift sie sie nicht. Es steht mir auch nicht zu, sie in dieser Hinsicht zu belehren. Es ist nur mein persönliches Empfinden. Ich trauere um das, was sie von sich so mit aller Macht unterdrückt. Aber manchmal – in einem Moment der Schwäche – gelingen mir kleine Stolperfallen. Kleine Stolperfallen, die sie in ihrem routinierten Kontrollverhalten ins Straucheln bringen.
In diesem Wissen unterbreche ich sie und sage ruhig, wie nebenher: „Die Frage ist doch eher: ‚Warum habe ich das Tor damals so gemacht?‘ und ‚Warum würden wir beide es so unterschiedlich machen?’“
Die kleine Falle schnappt zu. Durch diesen kleinen Dreh habe ich ihr die Kontrolle über die Richtung des Gesprächs ein weiteres Mal genommen. Ihr Versuch der Übernahme ist gescheitert. Und sie hätte mich so schön weiter sachlich und ungefährdet belehren können, darüber welche Aspekte ich denn bei meiner Schlussfolgerung bezüglich des Gartentores und der Verbindung zu einem eventuellen Umzug, alle außer Acht gelassen hätte. Sie hätte so schön glänzen und sich in ihrem so wachen Verstand sonnen können. Mir eine Punkteliste von Eins bis Zehn der Fehler in meinem Gedankengang präsentieren können. Ganz im Sinne eines Lehrers, der in der Sicherheit seiner Position ganz selbstsicher und aus einer angenehmen Distanz seine zum Unterricht verdammten Schüler todlangweilig zu Grunde belehren konnte.
Eva schweigt.
Heute überließ ich ihr nicht die Dozentenrolle. Wo ich sie sonst reden lasse, wenn sie zu Besuch kommt, und wo ich weiß, dass ich nur hilflos oder zornig ob ihres Stahlpanzers aus Kontrolle und nichtssagendem Small Talk ausharren kann, beharre ich heute. Heute weiß ich, dass ich das feine Wesen hinter dem Panzer erreichen kann. Sie weiß um die Schutzschildfunktion ihres analytischen Verstandes und sie setzt ihn auch in ihrer inneren Angst bewusst als Waffe ein. Und genau so bewusst hat sie erkannt, dass ich ihn jetzt ausmanövriert habe und mich nicht geschlagen gebe. Deshalb schweigt Eva. Auf dieser persönlichen Ebene ist Dozieren nicht mehr möglich. Ich habe unser inneres Band erneuert. Weil sie nicht aufmerksam war, habe ich sie in ihrem ewigen Duell um Kontrolle mit einer Finte getroffen. Ich habe eine Runde in ihrem ewigen Spiel um Kontrolle gewonnen und sie für den Bruchteil eines Augenblicks mit dem Schwert der inneren Wahrheit und Verbundenheit sanft und kühl, segnend an ihrer Stirn berührt. Sie ungesagt vor die Wahl zu stellen: „Bleiben wir beim Dozieren oder reden wir endlich über die Essenz der Welt? Hast Du noch Angst oder schließt Du die Augen und springst – vertrauensvoll an meiner Hand hinab? Nur heute. Nur einmal. Nur einmal Einheit. Es tut nicht weh. Versprochen. Du wirst daran nicht sterben. Dein Ego wird daran nicht sterben. Versprochen.“ Bereits als sie nach dem Gartenland fragte, ahnte ich, dass ich eine der seltenen Chancen bekommen könnte, hinter den Verteidigungsschirm zu gelangen. Vielleicht lag es an dem schönen Tag, dass sie so nachlässig war. Normalerweise fragt sie nicht viel. Und wenn, dann lässt sie mich nicht lange antworten. Viel fragen und jemanden lange antworten lassen ist gefährlich. Sie redet lieber selbst.
Nun gibt sie sich geschlagen. Sie hat die Berührung gespürt und schweigt. Es ist ein gutes Schweigen. Aufgeben, unterliegen, den Kampf einstellen, nicht mehr kämpfen müssen – vielleicht nur für Sekunden – kann so heilsam sein. Den Weg zurück zum Haus – die halbe Stunde – schweigen wir. Es ist ein gutes Schweigen. Könnte sie doch so verharren!
Ich bin mir nicht sicher, wie sie meine Entgegnung im Wortlaut verstanden hat. Es ist auch nicht so von Bedeutung. Wichtig war nur, dass wir diese Worte so gewechselt haben. Dass der Kreis von Kontrolle, Belehren, der Position Lehrer-Schüler durchbrochen wurde. Durchbrochen von Worten wirklichen inneren Gehaltes mit ihrer Wirkung im Nichtausgesprochenen. Sie hat wieder gespürt, dass die Welt nicht in Trümmer fällt, wenn sie Kontrolle abgibt. Wie es sich anfühlt, sanft in Liebe besiegt zu werden und kurz den schweren Harnisch ablegen zu dürfen, weil der sinnlose Kampf nicht zu gewinnen ist.
Vielleicht wollte ich in ihren Augen andeuten, dass ich das Tor vergänglich baue und das ein Symbol für meine Bereitschaft zum Wandel ist, während sie haltbarere Materialien verwendet hätte, und dies ihr starres Beharren ausdrückt. Sicherlich nicht falsch. In dieser Richtung weiter gedacht drücken meine Worte dann vielleicht auch noch aus, dass sie eher das lehrbuchgetreue Gartentor gebaut hätte. Mit klarer Orientierung, wie Gartentore den Vorgaben nach zu sein haben. Die Lehrerin, die mit allergrößter Hingabe Schülerin des logischen Lernwissens ist. Weil es so klar und immer wieder nachlesbar ist. Nicht so verworren, wie die menschlichen Gefühle. Während ich seinerzeit auf das krumme Holz, die Axt, den Hammer und die Nägel geschaut habe und in meinem Geist das Tor neu erstanden ist. Das Tor, das aus dem entstehen konnte, was mir zur Verfügung stand. Und das so wurde, wie es aus dem Inneren der Dinge heraus werden sollte. – – –
Das war jedoch nicht das, was ich meinte. Das, was ich meinte, lag jenseits von ihr und mir und unseren unterschiedlichen Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Ansichten und Vorstellungen. Jenseits von diesen Kleinlichkeiten. Ich meinte: „Die Frage ist doch eher, warum lässt uns das Schicksal so handeln, wie wir handeln? Warum konnte ich aufgrund der mir damals verfügbaren Werkzeuge und der Äste aus dem Wald kein anderes Tor bauen, als eines, dass nun zu diesem Zeitpunkt sich ein letztes Mal „öffnet“, indem es wieder vergeht? Was bewegt alles, so dass sich alles so bewegt, wie es sich bewegt? Wie weit liegt Dein Handeln wirklich alleinig in Deiner Hand? Was bedeutet Dein Handeln? Warum handelst Du anders als ich? Wenn, wenn, wenn ist eine schöne müßige alberne Turnübung für den Verstand. Und da sich diese Fragen nicht beantworten lassen, ist es letztlich ebenso müßig, sich darüber Gedanken zu machen.“
Aber das sind auch alles nur besserwisserische Belehrungen. Das, was gewirkt hat, lag weit hinter diesen Worten.
Ich habe Eva sehr gerne. Aber sie redet nicht gerne mit mir. Ich kann das verstehen. Ich bin nicht gut für ihre Barrikaden. Aber es macht mir nichts aus. Ich weiß, dass jenseits der üblichen Vorstellungen alles seine schicksalhafte Richtigkeit hat und gut ist.
Das kaputte Tor steht nun immer offen, damit es niemandem, der versuchen könnte es zu öffnen, auf den Fuß fällt. Jeden Tag sehe ich jetzt aus dem Fenster das offene Tor. Ob wir im kommenden November gegangen sind oder im darauffolgenden – oder erst in drei Jahren: Darauf kommt es nicht an und ist kein Beweis mit dem die Rationalisten unsere Wahrnehmung des Wandels als nichtig erklären könnten. Der Wandel hat eingesetzt. Und entgegen aller heutzutage üblichen Gewohnheit geschieht die Veränderung langsam und nicht „on demand“ und auch nicht „at time“. Und auch nicht per „morning express“ bis morgen früh 10 Uhr. Und so lange, wie es dauert, wird wohl auch das Tor offen stehen. Und alle werden sich bis dahin fragen, wann dieser Typ es denn endlich einmal zu reparieren gedenkt!
Und jedes Mal, wenn Eva hindurch geht, wird sich etwas in ihr regen…