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Die Herren des Waldes und der Welt

Ich stehe am Fenster und betrachte das Geschehen auf der gegenüberliegenden Wegseite. Auf einem Waldstück. Es scheinen Rodungsarbeiten notwendig zu sein. Vier kräftige Männer sind angerückt. Gekleidet in schnittsicherer Schutzkleidung. Waldgrün und Neonorange. Behelmt mit Gesichts- und Gehörschutz. Jeder mit einer Motorsäge versehen. In ihrem Tross: Zwei Fahrzeuge mit Ladefläche, ein gewaltiger Fendt-Traktor mit Anhänger – ausgelegt auf den Transport von Baumstämmen -, ein auf vier Rädern fahrender ausfahrbarer Kran mit einer offenen Kabine an der Spitze (Fachbegriff: Hubsteiger) und eine fahrbare Maschine, zum Greifen, absägen und entasten von Bäumen (Fachbegriff unbekannt).

Zwei Männer mit ihren Motorsägen schlagen eine Schneise im Unterholz, um den Fahrzeugen die Durchfahrt zu ermöglichen. Danach der Hubsteiger. Unglaublich. Der Kran fährt mit seiner Besatzung in fast zwanzig Meter Höhe. Drehbar, kippbar, neigbar in alle Richtungen, die ihm der Operator oben aus der Kanzel vorgibt, bewegt er sich. Ist eine Kiefer oben an der Spitze vom zweiten Mann in der Kanzel entastet und auf eine passende Höhe gekürzt worden, tuckert der Kran im Schritttempo weiter zum nächsten Baum, befehligt von seinem Herren und Meister oben an der Steuerung. Dann kommt die Sägemaschine zum Einsatz. Sie fährt vor, greift den zuvor gekürzten Baum mit ihrer Klaue, ein kurzes Kreischen. Kurz denke ich erschrocken, es komme vom Baum selbst, aber es ist die automatische Säge, die den Baum in Sekunden (vielleicht zwei, aber keine drei) knapp über der Erde enthauptet. Wie durch Butter, unglaublich. Man sieht sie gar nicht. Es hat fast etwas Hinterhältiges, diese versteckte Säge, die in dieser erbarmungslosen Umarmung plötzlich zuschlägt. Die Klaue legt ihn sich zurecht, den riesige Baum. Dreht ihn wie aus dem Handgelenk. Es sieht unwirklich aus. Ein Gefühl, wie beim Anblick eines Turners oder Körperartisten, der sich auf einer Hand langsam in den Handstand drückt. Ohne Schwung, nur mit Kraft. Es ist nicht die Art von Kraft, die der normale Mensch zu sehen gewöhnt ist. Ein weiteres Kreischen. Nicht viel länger als das erste. Der Baum rauscht durch die Maschine und kommt entastet hinten wieder heraus. Nun wird der Baumstamm per Klauenkran auf den Anhänger des Fendt-Traktors verladen.

So zieht die Gruppe langsam und unaufhaltsam in einem dauernden Kreischen und Wimmern durch das Waldstück. Behelmt, bestiefelt – gepanzert und geschützt vor der Zerstörungskraft der eigenen technischen Schöpfungen und deren Folgen.

Ein großer Ast aus einer Baumkrone, der von den Männern im Hubsteiger abgesägt worden ist, fällt aus zwanzig Metern Höhe bei meinem Nachbarn auf das Grundstück. Erschlägt den Zaun und einen alten Jasmin. Die Männer nehmen es nicht wahr. Man versteht es, wenn man später durch die von ihnen geschlagene Schneise geht. Es ist solch ein Ausmaß an Zerstörung, das diese Menschen Tag für Tag erleben und herbeiführen, dass ein Stückchen kaputten Zauns und ein winterlich kahler platter Busch sie nicht mehr erreichen können. Hätte der Jasmin geblüht, dann hätten sie vielleicht Rücksicht genommen. – Vielleicht – Vielleicht auch nicht. Ihre Arbeit ist von so großer und gewaltiger Kraft, dass kleine Details – der Tod am Rande – in ihrer Wahrnehmung zu existieren aufhören.

Als ich am Fenster stand, während diese Menschen ihre ihnen gar nicht bewusste Herrschaft über die Welt ausübten – ausgestattet mit den technischen Geschöpfen des menschlichen Geistes, die präzise und ohne Störungen oder Hemmungen ihren Willen ausführten –, wurde mir wieder klar, warum es in für die Menschen in dieser Welt keinen Gott, keine Schöpfungskraft mehr geben kann: War und ist doch der Einfluss der Jäger und Sammler – unserer Vorfahren oder heute noch bestehender Stämme – auf die sie umgebende Schöpfung gering. Ist doch das allermeiste auf der Welt nicht von ihnen „gemacht“ und unterliegt nicht ihrem Einfluss. Ihr Wissen, dass es etwas anderes geben muss, was alles „macht“ und was den Einfluss auf all dieses Geschehen in der Welt ausübt, ist daher immer präsent. Sehe ich diesen Maschinentross, dann sehe ich auch: Das Haus, das Auto, den Kühlschrank, das Penicillin, die Schaufel, die Stecknadel, den Raumflug. Und alles andere, das der moderne Mensch „gemacht“ hat. All dies dient der Beherrschung der übrigen Natur. Der moderne Mensch sieht sich um – und sieht auch nur dies. Es erscheint ihm, sein Einfluss auf die Welt sei größer als der Gottes. Denn wir – ich schaue aus dem Fenster – säbeln langsam aber zielstrebig die Schöpfung, die Gott hat wachsen lassen, ohne größere Aufwände ab. Wer hat mehr drauf? Er oder wir? „Dann wird es ihn wohl gar nicht geben.“ sagen daraufhin diejenigen, deren Denken nur noch um die Technik kreist und die ihren Seelensinn nicht mehr wahrnehmen, weil er ganz überlagert ist vom Rausch der fünf anderen Sinne. Wie den Waldarbeitern entgehen ihnen im Maschineninferno die Details. Der Zaun, der Jasmin; übersehen und deswegen kaputt. Und so sehen sie nur das vom Menschen gemachte. Der eingeschränkte Blick erzeugt in uns die Illusion der Unabhängigkeit. Wir helfen uns selbst! Aber die Frage bleibt trotzdem unbeantwortet: „Wo kommt das alles her? Auch wir. Wo kommen wir denn her?“ Wenn es keinen Gott gibt, dann kann es doch nur einen technischen Grund geben! Denn wir haben ja den Eindruck, dass wir mit Technik wie göttliche Schöpfer handeln können. Eigentlich: Besser handeln können, als die Schöpfungskraft sogar! Schaut unsere fehlbaren Körper an. Vergleicht sie mit den perfekten Konstruktionen unseres Geistes! Und nur auf dieser technischen Ebene wird nach Antworten gesucht. Die technische Antwort bedient nur die fünf Sinne des Verstandes. Und in ihrem Inneren wissen alle, dass diese Antwort nicht ausreicht…Wer anders als nur logisch wahrnimmt, der weiß es mit absoluter Sicherheit. Auch die ausgefeilteste Maschine hat ihren Ursprung in der Schöpfung. Der zündende Gedanke des Entwicklers dieser Maschine hat seinen Ursprung in der Schöpfung. Wir haben der Schöpfung etwas künstliches aufgesetzt. Eine Schicht. Und nun sind wir nicht mehr in der Lage, unter diese Schicht zu schauen und das, worauf sie letztendlich ruht, zu betrachten. Oder wir haben einfach vergessen, dass unter dieser Schicht noch etwas tragendes existiert. Wir sind nicht unabhängig. Nur bemerken wir es nicht, wenn wir mit unserem Blick nicht uns selbst überschreiten, sondern bei den Dingen halt machen.

Ich sprach einmal einen Mann. Vielleicht war er Mitte vierzig. Er wohnte in einem kleinen Haus im Wald; er heizte nur mit Holz. Er schlug dieses Holz selbst, transportierte es selbst, sägte es selbst zu, hackte es selbst, stapelte es selbst, trocknete es selbst und verfeuerte es selbst. Holz war ein wichtiger Bestandteil seines Lebens und er verbrachte viel Zeit mit den damit verbundenen Aufgaben. Er sagte, schon als Kind sei er gerne mit den Holzarbeitern in den Wald gegangen und hätte ihnen fasziniert bei der Arbeit zu geschaut. Ich fragte ihn: „Was hat Dich denn damals so an der Waldarbeit fasziniert?“ – „Die Technik.“, sagt er ohne zu zögern. Er musste für diese Antwort keinen Augenblick überlegen. Ich bin einen kurzen Augenblick sprachlos vor Überraschung. Meine Schubladen hatten nicht mit dieser Antwort gerechnet. Meine Schubladen sagten: „Holz, Waldluft, Erde, Körperkraft im Einklang mit der Natur, dem Wetter ausgesetzt sein, gute Erschöpfung am Abend, der Duft des Holzes und des Bodens, das wärmende Feuer, Sein und Vergehen…“. – Die Technik… – Jetzt schaue ich aus dem Fenster und muss wieder an ihn denken.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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