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Die Eibenhecke

Ein Nachbar wollte vor Jahren seine Eibenhecke entfernen lassen. Zum Grünschnitt auf die Deponie sollte sie. 25 Jahre standen die Pflanzen in seinem Garten und dann sollten sie weichen, weil sie unpraktisch wurden. Das Schneiden wurde lästig und man konnte zwischen Hecke und Zaun so schlecht das Laub fegen. Sechs Eiben habe ich in jenem Sommer noch bei ihm ausgegraben, mit Spaten, Schaufel und Beil. Sie schwitzend, Eibe für Eibe, in meinem Fahrradanhänger zu mir nach Hause gefahren, gewässert, eingepflanzt, gedüngt, gepflegt. Sie hatten starke und weitverzweigte Wurzeln, von denen ich beim Ausgraben viele mit dem Beil durchtrennen musste. Anders hatte ich die Bäume nicht transportieren und vor so der Kompostierung bewahren können. Da standen sie nun bei mir hinten auf dem Grundstück. Mit amputierten Wurzeln, nach 25 Jahren Beständigkeit nun schockartig an einem fremden Ort. Diesen Schock konnte man riechen. Noch tagelang stanken die Pflanzen und strömten einen eigenartigen unangenehmen Geruch aus. Einen Geruch nach Fäulnis. Saurer Angstschweiß. Schmerzensschweiß. 25 Jahre lang waren sie zweimal jährlich in Form geschnitten worden. In eine rechteckige Kastenform von vielleicht vierzig Zentimeter Breite, einem Meter Länge und etwa einem Meter zwanzig Höhe. Eine technische, dem menschlichen Ordnungssinn entsprechende Form. Drei von ihnen haben die Verpflanzung trotz allen Wässerns und Düngens und Pflegens nicht überlebt. Zwei starben im ersten Jahr. Die dritte Eibe, die größte, nach zwei Jahren.

Drei der Eiben haben es geschafft. Nun sind fünf Jahre vergangen und bis zu diesem Sommer waren sie nicht sichtbar gewachsen. Fünf Jahre lang waren sie in ihrer 25 Jahre gewohnten Kastenform geblieben. Grotesk sahen sie aus, jetzt wo sie einzeln standen. Die Unnatürlichkeit ihrer Form wurde nicht mehr dadurch überdeckt, dass die einzelnen Eiben in einer Hecke nicht mehr als zurechtgestutzte Einzelwesen erkennbar waren. Aber sie sind doch gewachsen. Unsichtbar und jedes Jahr. In ihren Wurzeln. Dort sind sie stark geworden und haben wieder ihre Festigkeit erlangt, den Kontakt zur nährenden Erde wiedergewonnen. Unsichtbar und Jahr für Jahr. Dadurch haben sie überlebt. Egal, wie grotesk sie in meinem Garten standen. Verstümmelt und ihrer natürlichen Form beraubt. Albern, irritierend und den verwunderten, abwertenden Blicken der Vorbeigehenden ausgeliefert. Funktionslos quasi. Keine Heckenfunktion und auch keine Zierdefunktion. Aber sie haben sich verwurzelt und ihre begrenzte Kraft nicht in äußerer Zierde vergeudet, sondern in ihre Verwurzelung gesteckt. Jahr für Jahr. Und jetzt, nach all den Jahren, jetzt, wie auf ein gemeinsames Kommando, wie nach einem gemeinsamen Plan, sprießen ihre Triebe in die Höhe und in die Weite. Schluss ist nun mit dem aufgezwungenen Kasten! Nun können sie sich um das Äußere kümmern! Die männlichen Pflanzen produzieren Samen, die weibliche Pflanze Blüten. Jetzt kehren sie zurück zu ihrem natürlichen Zustand. Alles haben sie erduldet. 25 Jahre Beschnitt in Reih und Glied. Eine schmerzhafte Entwurzelung. Den Neubeginn an einem fremden Ort. Das Dürsten und Zehren, bis die Wurzeln wieder genug Nahrung fördern konnten. Den Spott und die Bewertung der anderen wegen ihrer Kastenform und Zwecklosigkeit. Ihrer Existenz als Freak. Sie haben die helfende Hand angenommen. Sicher nicht ganz freiwillig, denn sie wären bestimmt auch noch gerne weiter bequem in der Heckenreihe verblieben. Doch vor ihnen lag das Ende und die helfende Hand bot ihnen den Neubeginn, pflegte sie und half ihnen, die Durststrecke zu überleben und wieder sie selbst zu werden. Jetzt sprießen sie wieder, wie nach einem gemeinsamen Plan und ich bin gespannt, wie sie aussehen werden, auf ihre natürliche Majestät und Kraft, wenn die nächsten 25 Jahre vergangen sein werden. Ich bin dann alt. Aber die Eiben haben dann noch ein langes, langes Leben vor sich.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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