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Der Zeitplan versus die Jahreszeiten

„Wie haben wir das eigentlich immer gemacht, wenn es um Halbfünf schon wieder dunkel ist?“ Es ist einige Zeit nach der Sommersonnenwende. Dass die Tage wieder kürzer werden – jeder Tag ein paar Minuten – erkennen wir daran, dass die Sonne, die einst hoch über den Wipfeln unserer Bäume erstrahlte, erst diese Wipfel streifte und nun bereits deren Schatten auf die Mauern unseres kleinen Häuschens wirft. Bald kommt wieder der Herbst. „Keine Ahnung.“ entgegne ich. „Vielleicht sind wir früher los gegangen.“ Es war meine Frau, die die Eingangsfrage gestellt hat und sie meinte damit unsere spätnachmittäglichen Hundespaziergänge. Ich glaube, wir stellten uns diese Frage mehrere Spätsommer hintereinander. Der Grund lag wohl darin, dass wir darauf nie besonders zu achten schienen. Dieses Jahr wollte ich aber einmal darauf achten, damit ich im nächsten Jahr eine Antwort parat haben würde! Es wurde Winter, die Tage sehr kurz und ich stellte fest: Wir stellten uns automatisch auf die Lichtverhältnisse ein. Wir verlegten unsere Gänge auf einen früheren Zeitpunkt. Einem Zeitpunkt an dem es noch hell war. Das erstaunliche war – nun achtete man ja darauf – , dass wir auf diesen Runden keinem anderen Hundebesitzer mehr begegnete. Sie waren wie von Erdboden verschluckt. Der Weg führt uns oft um ein – zu dem winterlichen Zeitpunkt – abgeerntetes Feld. Dort traf man in der Regel immer einige Spaziergänger. Aber nun konnte man seinen Blick von einem Ende des Feldes zum anderen schweifen lassen: Nichts! Erstaunlich. Traf man bei „normalen“ Lichtverhältnissen häufig Mengen an Hausfrauen und Rentnern mit ihren Hunden, so alleine waren wir nun unterwegs. Jetzt war es gegen 16 Uhr. Mir schwante etwas. Am folgenden Tag ging ich zur „normalen“ Ausgehzeit (ca. 18 Uhr) los. Stockfinster. Ich hatte absolut keine Lust. Ich nahm mehrere Taschenlampen mit. Sicher ist sicher. Unser Hund schaute mich ebenfalls ein wenig skeptisch an und fragte deutlich, ob es denn eine wirklich gute Idee sei, ohne ausreichende Sicht das Haus zu verlassen und sich dazu auch noch aller Wahrscheinlichkeit weit davon zu entfernen. Die Erfahrungen eines mehrjährigen Lebens auf der Straße ließen grüßen. Wir gingen dessen ungeachtet mutigen Schrittes in der Finsternis durch unseren Wald zum besagten Feld. – Und da waren sie alle! Von einem Ende des Feldes zum anderen sah man sie: Die Lampen flackerten. Mal gelbes Glübirnenlicht; mal weißes LED-Licht. Die Hunde leuchteten, blinkten in verschiedensten Farben und Rhythmen mit ihren Spezial-Halsbändern. Die Gassigeher leuchteten durch ihre Reflektorkleidung, dass es nur so eine Pracht war. Es wurde Lichtzeichen gegeben. Es wurde geantwortet. Blink, Blink! „Hallo, hier komme ich!“ Blink, Blink, Blink! „Hallo, habs gesehen!“ Ein Ritual, dass sich jedes Jahr vor meiner Haustüre wiederholte, und wofür ich drei Jahre brauchte, um es einmal erleben zu dürfen. Wie konnte das sein?! Ich war sprachlos und irritiert. Dann verstand ich: Es konnte sein, weil meine Bezugsgrößen und die der übrigen Gassigeher völlig unterschiedlich waren. Meine Bezugsgröße war der Wechsel von Tag und Nacht in seinem Wandel über das Jahr. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, im Stockfinstern mit unserem Hund spazieren zu gehen. Unser Hund eben auch nicht und wir taten das (bzw. ließen das), ohne darüber nachzudenken. Die Bezugsgröße der anderen Gassigeher war die Uhr. Achtzehn Uhr. Ein unumstößlicher Termin. Spielt die Welt nicht mit, dann rüste ich mich aus mit gewaltigen LED-Lampen und mache die Nacht zum Tag. Beleuchte den Hund und mich ebenfalls und ziehe – kaum etwas sehend – meine Runden. Eine heilige Uhrzeit. Der feste 24-Stundenrhythmus zählt. Nicht der natürlich sich wandelnde Rhythmus von Tag und Nacht, der uns als Wesen eigentlich viel näher sein sollte.

Der 24-Stundenrhythmus ist über das Jahr immer gleich und die Menschen werden hindurch gejagt, als wären sie über das Jahr auch immer gleich. Egal, ob ihr Körper im Winter mehr ruhen müsste. Egal, was ihnen ihr Körper- und Seelenrhythmus mitteilt. Egal, ob sich die Verhältnisse von Tag und Nacht verschoben haben. Gleichbleibende Funktion – gleichbleibend über das Jahr. Acht Uhr Arbeitsbeginn. Sommers wie Winters. Ob es draußen noch dunkel ist oder nicht…

Ich erinnere mich noch genau, wie lange unser Hund gebraucht hat, um zu begreifen, dass wir trotz eines bevorstehenden Regens das Haus verlassen werden. Für dieses Tier war „nass werden“ gleichbedeutend mit nass bleiben, tage- und nächtelang erbärmlich frieren, tagelang sich nicht mehr warm fühlen, schlecht oder nicht schlafen können, krank werden. Leiden wie ein Hund! „Wenn man den Regen doch schon riechen kann, warum um Himmelswillen bleibt man da nicht zu Hause? Sind die Menschen alle vollkommen verrückt? Wo bin ich hier hin geraten? Wissen die denn nicht das Mindeste!?“ Es hat lange gedauert, bis unser Hund begriffen hatte, dass „nass werden“ seinen Schrecken verloren hat und er immer wieder in das schöne Menschenhaus zurückkehrt und er immer an ein warmes Menschenfeuer zurückkehrt, an dem er sich unter einer Menschendecke wohlig aufwärmen kann.

Das Tier hat mit der Zeit gelernt, dass der Mensch bestimmte natürliche Faktoren außer Kraft setzen kann. Es ist gut, dass wir das können. Es ist gut, dass wir – bildlich gesprochen – als Prometheus das Feuer von den Göttern gestohlen haben. Aber es ist manchmal auch nicht gut. Ich habe das Gefühl, dass zu viele natürliche Faktoren von uns außer Kraft gesetzt werden. So viele, dass das Wohl, welches uns dadurch zu entstehen scheint, nur scheinbar ist. Ich glaube, dass es manchmal besser wäre, sich in eine ganze Reihe natürlicher Faktoren zu fügen, weil das Wohl, das unserem Körper und unserer Seele dadurch entsteht, um vieles größer ist. – Ich habe das 18-Uhr-Phänomen noch ein weiteres Mal beobachtet. Dieses Mal war es Sommer. Ich wandelte um 20 Uhr an besagtem Feld entlang. Es war wunderbar warm und die untergehende Sonne zeichnete wunderschöne Farben in die lichten Wolken am Himmel. Farben, die man nicht malen könnte, so unwirklich und schön waren sie. – – – Und ich war allein. Niemand war mehr unterwegs, um diesen Anblick mit mir zu teilen und sich an der Schönheit der Schöpfung zu erfreuen. In einem Moment, in dem man die Einheit mit dieser Schöpfung hätte spüren können. Hätte sich dieses Schauspiel doch nur an den unabänderlichen 18 Uhr-Termin gehalten…

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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