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Das Gewölbe der Unruhe

In der Ruhe liegt die Kraft… Ein altes Sprichwort. In der Seelenruhe liegt die Kraft: Nicht nach Verstandesart handeln. Nicht meinen, auf eine materielle Ursache zwingend mit einer materiellen Wirkung reagieren zu müssen. In Vertrauen nicht handeln. Annehmen. Geschehen lassen. Erlauben, dass das Gleichgewicht sich – von selbst und in Ruhe – einstellt.

Des Topmanagers Gedanken, wenn er dies liest, lassen sich leicht erraten. Ihm, als Hohepriester des Kultes um den kriegerischen Geld- und Ego-Gott, schwant Böses bei dem Gedanken, er ließe sich auf obige Worte ein. Er sieht dann vor seinem geistigen Auge, wie seine Angestellten ihm dann auf der Nase herumtanzen. Wie sie ihn hintergehen und betrügen. Wie sie sein Unternehmen, beginnend bei den Kugelschreibern und den Kaffeepaketen aus den Flurküchen, plündern. Wie seine Vertrauten versuchen ihm seinen Posten zu stehlen. Wie die Konkurrenz sein seelenruhiges Nichthandeln benutzt, um ihn zu vernichten. Um ihn aufzufressen! – Und er sitzt im Schneidersitz mit geschlossenen Augen und den Händen auf den Knien – vielleicht noch ohne Schuhe und auf Socken – auf der Platte seines Mahagoni-Schreibtisches im 48sten Stockwerk seines Tempels, vor sich hinsummend wie ein debiles Kind, während seine Welt um ihn herum in Flammen aufgeht und in Trümmer fällt.

– – – Und er hat recht mit dieser Vorstellung. Genau das wird in dem Fall passieren, wenn er sich in Seelenruhe begibt… zwangsläufig… Denn in der Seelenruhe liegt der Schlüssel zum Gleichgewicht. Die Seelenruhe ist nicht in der Lage, Dinge, die aus der Unruhe geboren wurden, ja, die sich von der Unruhe nähren und nur durch sie existieren können, zu erhalten. Gehe ich in Seelenruhe, dann fällt alles, was auf dem Übermaß an Unruhe unseres Verstandes beruht, in Trümmer. Zwangsläufig. Meine eigene äußere Unruhe steht dann nicht mehr im ungesunden Übermaß als nährende und ausbeutbare Quelle zur Erhaltung der unruhigen Zustände um mich herum zur Verfügung. Das Gleichgewicht beginnt, sich einzustellen.

Soweit so gut, mag man nun denken. Übermaß und Ungleichgewicht zu beseitigen, klingt doch erst einmal vernünftig. Unser Problem besteht nur in der Größe und der Menge dessen, was dann gehen wird. Es ist das Ausmaß der Veränderung, dem wir uns dann in der Folge gegenübersehen. Der Manager sieht den zu befürchtenden Verlust völlig klar und es gibt bezüglich des Umfanges des Verlustes zwischen ihm und den anderen Menschen in seiner Gesellschaft im Grunde keinen Unterschied: Da nahezu alles in unserer Welt von der Unruhe des Verstandes geschaffen, genährt und erhalten wird, muss, um ein Gleichgewicht zu schaffen, eine gewaltige Menge unserer altbekannten Welt in Trümmer fallen. Es muss so sein, da die konstruierte Welt nahezu unsere gesamte Kapazität an Kraft benötigt, um halbwegs stabil existieren zu können. Die Welt des Verstandes kann nichts von unserer Kraft der Unruhe entbehren. Im Gegenteil: sie benötigt eigentlich immer mehr und mehr davon.

Es ist so, als stünden wir in einem Gewölbe und stützten den einzigen tragenden Pfeiler mit all unserer Kraft. Wir sind gelähmt, weil wir uns nicht bewegen können. Wir müssen stehen und stützen. Du kannst Dir nicht den Schweiß aus der Stirn wischen. Du kannst nicht von einem Fuß auf den anderen treten, um Dir Entspannung zu verschaffen. Deine Existenz dient allein der Erhaltung des finsteren Gewölbes durch das Stützen des einzigen Pfeilers. Bedürfnisse, die dich betreffen, sind nicht zugelassen. Das Gewölbe zwingt Dir die Regeln auf. Halte sie ein oder alles geht in Trümmer. Die ganze dunkle, dich lähmende Gewölbewelt fiele in sich zusammen.

Wir sagen uns: „Na, es ist doch schön trocken hier drin. Vielleicht ein wenig kalt, aber doch schön trocken. Das kann keiner bestreiten. Das bisschen stützen. Alles hat seinen Preis. Nichts gibt es umsonst. Wir klagen auf hohem Niveau – Hört man so von verantwortlicher Stelle.“ Allein unser Gedanke, uns einmal nur die Augen wischen zu wollen, lässt das Gewölbe schon bedrohlich ächzen und knirschen. „Oh, dann lieber nicht. War nur so ein dummer Gedanke! Alles in Ordnung! Geht schon.“ Führe ich diesen Gedanken dann aber doch einmal aus – weil ich mich bewusst entscheide, dass ich nicht mehr so weiter machen will oder allein, weil ich mir die Augen wischen muss und nicht mehr anders kann, da meine Grenzen überschritten sind – dann kracht es gewaltig und man glaubt, das Ende der Welt sei nahe; man hebt die Hände über den Kopf um sich vor den Trümmern zu schützen. Das Gewölbe bricht zusammen. Es wird uns vielleicht verletzen in seiner letzten verzweifelten Wut dem Abtrünnigen gegenüber. Vielleicht erschlägt es uns auch. Ich will das nicht bestreiten. Vielleicht verschonen uns die Trümmer aber auch und es geht für uns erstaunlich glimpflich ab.

Und dann ist es weg. Um uns herum öffnet sich eine weite Ebene. Das Licht, das unsere Augen so lange entbehren mussten, blendet uns. Wir sehen verschwommen, weil wir weder die Helligkeit noch den weiten Blick gewöhnt sind. Wir drehen uns um und stolpern fast dabei. So sehr waren wir in der starren Position verhaftet. So wenig Gleichgewicht ist uns geblieben. Das erste Mal seit Jahrzehnten können wir wieder sehen, was hinter uns ist. Wir richten uns auf. Das erste Mal nach vielen Jahren der Lähmung und des Dienstes am gnadenlosen, alles fordernden Gewölbe, spüren wir wieder, wie die Bewegung unserer Muskeln und Knochen sich anfühlt.

Was vom Gewölbe geblieben ist, das ist der Boden. Wir stehen immer noch auf dem festen Boden. Aber nun dient er uns. Er trägt uns. Und wir können auf ihm gehen. Wir können ihn für uns nutzen, um die weite Ebene zu beschreiten und uns in ihrem Licht zu wärmen. Die Materie ist nun an ihrem Platz. Sie ist nicht verdammt oder aus der Welt getilgt worden. Das Übermaß ist nur verschwunden. Gleichgewicht ist entstanden. Alles hat nun seine Aufgabe im rechten Maß. Vielleicht regnet es auch zwischendurch einmal und während wir nass werden erkennen wir, wie erfrischend das auch sein kann, wenn man weiß dass danach wieder die warme Sonne scheinen wird.

Letztendlich liegt es an uns selbst, ob wir das Gewölbe des materiellen Übermaßes so groß werden lassen, dass uns sein Einsturz so bedrohlich erscheint. Hielten wir es auf der Größe und der Massivität einer Strohhütte, wie leicht fiele es uns, einfach unseren Platz zu verlassen und es zusammenfallen zu lassen. Uns zu befreien und nur noch den Boden zu benutzen. Ihn uns dienen zu lassen.

Vielleicht gaukeln wir uns sogar etwas vor und wir stützen gar kein bedrohliches und fragiles Gewölbe. Vielleicht ist es unsere Angst vor der Weite und dem unbekannten Neuen, die in uns den Eindruck erweckt, es stünde eine Katastrophe bevor, wenn wir nur einmal uns selber – unserer Ganzheit – dienen würden. Vielleicht könnten wir einfach loslassen und erkennen, dass der Pfeiler überhaupt kein Pfeiler war, den wir stützten, sondern dass er ein Seil war, das wir die ganze Zeit krampfhaft festhielten. Das Gewölbe würde sich als eine schwarze seidene Kuppel entpuppen, die sich – nun frei und losgelassen – im Wind fast lautlos und nur mit einem leisen Flattern in die hohen Lüfte auf Nimmerwiedersehen entfernen würde. Kleiner und kleiner werdend, bis sie als Punkt am fernen blauen Himmel verschwunden wäre. Wir würden ihr ungläubig und blinzelnd hinterher schauen, wie einem alten, verschwommenen Traum aus längst vergangenen Tagen. Unser erstaunter Blick richtete sich auf unsere leeren Hände, die sich nun so ungewohnt anfühlten. So – frei. So – leer.

Wir hätten dann alle unsere Kraft nur eingesetzt, um die Kuppel all die Jahre nicht entfliehen zu lassen. Wir hätten unsere Kraft selber eingesetzt und unsere Lähmung selbst herbei geführt. Wir hätten uns belogen, indem wir die Empfindung des Zuges, des Entfliehenwollens, in das Gefühl des bedrohlichen Druckes und des Zusammenstürzens umgedeutet haben.

Wäre es so, dann müssten wir wieder fragen: „Wer ist denn dieses ‚Wir‘, das uns diese Illusion leben lässt? Sind wir ‚Wir‘? Ist unser Verstand ‚Wir‘? Wer ist es, sollte es so sein, der uns mit falschen Drohungen und der daraus folgenden Angst gelähmt hält?“

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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