Ich habe einen Teppich gekauft. Gebraucht. Online, von privat. Nun möchte ich ihn abholen und stehe mit meinem Wagen vor der dem Haus der Verkäuferin. In einer typischen, recht abgerissenen Gegend in einer großen Ruhrgebietsstadt. Ich denke bei mir: „Schon lange nicht mehr gesehen, so eine Gegend.“ Früher hatten wir selbst lange Zeit so gewohnt.
Fünf südländisch erscheinende Menschen stehen vor dem Eingang. Zwei ihrer Hunde bellen mich kurz an. „Vierter Stock“ hatte Frau P. gesagt. Ich schelle. „Hallo?“ klingt es freundlich aus der Gegensprechanlage. „Hallo, ich komme wegen des Teppichs.“ antworte ich. „Ach ja. Kommen Sie rein. Ganz nach oben bitte.“ Der Summer erklingt und ich öffne die Tür. Ein typisches Treppenhaus in einem Wohnblock der fünfziger Jahre zeigt sich mir. Kleine Fliesen im Flur. Linoleumbelag auf den Stufen und ein Geländer aus Holz. Schnellen Schrittes erklimme ich die Treppen. Wir haben selbst einmal im vierten Stockwerk gewohnt. Es ist dann immer so: Im dritten angekommen, hat man jedes mal das Gefühl angekommen zu sein. Aber es ist immer noch ein zusätzliches Stockwerk zu gehen. Auch diesmal ist es so. Nach Jahren mal wieder auf dem Weg in den vierten Stock. Ich schmunzele, bei diesem Deja vú.
Oben angekommen steht dort eine kleine Frau. Blonde kurze Haare. Nicht schlank, aber auch nicht dick. Das Gesicht hinter einer rosafarbenen Maske verborgen. „Na, Sie sind aber gut hier hoch gekommen.“ sagt sie sanft und freundlich. „Ja,“ sage ich lachend „das hat mich auch schon gewundert.“ Und ich spüre eine gewaltige Welle von Geborgenheit. ‚Eine ganz große sanfte weibliche Kraft. Echte Mutterkraft.‘ kommt es mir in den Kopf. „Mir fällt es schon schwer.“ sagt sie. „Ich bin auch schon über sechzig.“ „Über sechzig? Das sieht man Ihnen nicht an.“ Sage ich und und sehe sie ihre Einkäufe die Treppen hoch schleppen. Im dritten Stock angekommen. Und dann noch einen weiter. ‚Und sie nimmt das an. Sie nimmt das an in ihrer Hingabe an das Leben.‘ „Da sind Sie jetzt weit gefahren für den Teppich.“ stellt sie sanft und freundlich fest. „Ja das stimmt. Aber warum nicht. Ich war schon lange nicht mehr in G. Ist immer wieder ein Erlebnis.“ Sage ich ein wenig spaßend. „Schlimm, nicht war?“ sagt sie sanft. Und ich spüre ihr großes Leid. Den Schmerz, den ihr großes weibliches, seelisches Wissen nicht kompensieren kann. „Schlimm hier, nicht wahr? – Und die vielen Ausländer.“ Wir stehen auf dem kleinen Treppenabsatz unter dem Dach. Am Ende der Treppe vor ihrer Tür und ich spüre ihre Einsamkeit. Ihre Entfremdung vom Leben. Es geht nicht um die Ausländer als Ausländer bei ihren Worten. Es geht um ihr eigenes abgerissenes Leben. „Ja.“ Sage ich „Eine andere Mentalität. Aber unabhängig davon, auch in D. sieht es nicht gut aus. Vieles kommt runter. Die Armut nimmt zu…“ „Schlimm, nicht wahr?“ sagt sie voller Mitgefühl und auch eigenem Leid. Und ich spüre, wie sehr sie diese Fremdheit, diese Trostlosigkeit schmerzt. Und wie sie trotzdem noch das Leid des anderen annehmen kann. Fast schon heilen kann. Nur durch ihr Weibliches, durch ihre Fähigkeit anzunehmen. „Ist hier aber fast überall so.“ sage ich „Nur in E. Da sieht es noch besser aus. Die halten die Fahne noch etwas hoch.“ sage ich lächelnd. Sie sagt ruhig: „Ich komme eigentlich auch aus E. Ich will auch wieder zurück. Es ist schrecklich hier.“ Es ist eine sanfte Feststellung. Keine Aggression ist ihrer Darstellung ihres Schmerzes zugegen. „Dann machen Sie das. Und dann bei K. schön ein Eis essen am See.“ sage ich freundlich. „Gestern waren wir bei K. ein Eis essen.“ „Wirklich?!“ sage ich überrascht. „Das war schön…“ Wir sprechen noch über den kleinen Teppich. Neu ist er. Muss nur erst wieder glatt werden. War lange aufgerollt. Kein Problem, sage ich.
„Ich wünsche Ihnen alles Gute. Gehen Sie zurück nach E.!“ sage ich zum Abschied. „Das mache ich. Ihnen auch eine gute Fahrt nach Hause.“ sagt sie. Ich gehe die Treppe wieder hinunter. An der Innenseite der Haustür hängt ein Zettel. „Das Haus verlassen ohne Türenschlagen und lautem Gerede!“ steht da drauf.
Ich bin traurig. Das ist nicht gut so. Nichts ist gut so. Wie viele von diesen Menschen gibt es in unserem Land allein? Menschen so voller Güte, voller Nächstenliebe, voller weiblichem Wissen – und so alleine gelassen. Abgestellt am Ende der Treppe im Obergeschoss. Menschen, die so viel wissen, die so viel beitragen könnten mit ihrer sanften wissenden Wahrheit, die sie in sich tragen – und die einfach vergessen werden…. Das ist nicht die Welt, wie sie sein sollte. Niemand darf so alleine sein. Niemand, der so viel zu geben hat, darf so ignoriert, so unbeteiligt werden. Und ich spreche nicht von der großen bösen Welt, in der ja angeblich alles so ist, wie es ist, leider, leider. Ich spreche von diesem Land. Von Entscheidungen, die in diesem Land getroffen werden können. Von Visionen, die in diesem Land verwirklicht werden könnten, wenn…. Ja, wenn…. Wieder erkannt wird, dass das Weibliche die einzige gebärende Kraft ist. Und dass das Weibliche dem Männlichen sagt, was zu tun ist und nicht umgekehrt. Und dass es das Männliche ist, was das Weibliche beschützen muss. Dass die wahre Ritterlichkeit wieder erstehen muss. Die Ritterlichkeit, die die Schande des erbärmlichen Betruges und Luges, des elendigen Eigennutzes, dieses schmutzigen Geschäfts, das jeden Menschen innerlich beschmutzt, aus dieser Welt vertreiben wird.
Frau P. wird nicht nach E. ziehen. Dafür brauche ich kein Hellseher zu sein. Sie wird die Mieten dort nicht bezahlen können und weiter in ihrer Mansarde unter den Dachschrägen in der heruntergekommenen Gegend von G. bleiben. Warum? Weil es nicht vorgesehen ist, dass für Menschen, die keinen dreckigen Geld-Gewinn bringen, unnötige Aufwände erzeugt werden. Jeder muss selber sehen. Und wenn die heilende wissende Frau keinen dreckigen, armseligen, toten monetären Beitrag leisten kann, dann lässt man diesen Menschen mit seinen überflüssigen Eigenschaften eben einfach verrotten… Alles andere wäre ja Kommunismus… nicht wahr? Etwas tun, was fremdnützig ist? Gott, äh Geld bewahre! Nur minimal. Nur, damit diese Menschen nicht vor Hunger auf komische Gedanken kommen.
Erdnussbutterpakete, habe ich gelesen, sind die große Erfolgsgeschichte in der dritten Welt. Wer das glaubt, der sollte sein Essen nach Afrika schicken und selbst von seiner Erdnussbutter leben. Dann wird er bereits am ersten Abend vieles anders sehen. Wahrscheinlich bereits beim Frühstück.