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Wahre Befreiung

Gerda geht den Weg entlang. Ich sehe sie durch das Fenster. Ich spüre, wie sich meine Züge verhärten. Gerda kommt aus Bochum und hat in unserer Nähe ein Ferienhaus. Meistens kommt sie alleine. Für meinen Geschmack kommt sie viel zu oft. Diesmal ist sie nicht alleine. Sie geht den Weg mit ihrem Mann zusammen entlang. Er durfte wohl wieder einmal mit kommen. Das ist unüblich. Meistens kommt sie alleine.

Gerda ist eine Giftspritze. Über jeden hat sie jedem etwas Schlechtes zu erzählen. Natürlich nur, wenn derjenige, um den es geht, nicht anwesend ist. Versteht sich von selbst. Gerda weiß alles und das auch noch besser als jeder andere. Gerda richtet über Gesehenes und Gehörtes in Bruchteilen von Sekunden, wobei die Urteile durchaus an einem Tag anders als am nächsten ausfallen können. Situationsabhängig sozusagen, wie es gerade am Besten passt. Wenn dann, wie eigentlich meistens, ihren Worten jede Substanz und Wahrheit fehlt, beeindruckt sie ihre Zuhörer mit einem resoluten, keine Gegenmeinung duldenden Ton. Einem Ton, der sagt: „Wem das nicht einleuchtet und wer nicht diese Meinung hat, der ist doch wirklich dümmer als es die Polizei erlaubt!“ Die einfachen Menschen beugen sich diesem Ton und glauben ihr all die Gemeinheiten, die sie über die Anderen von sich gibt. Manche gehen ihr aus dem Weg. Hilflos. Sie wissen nicht, wie sie diesem Gift sonst entkommen sollten. Sie sind ihr alle nicht gewachsen. Gerda kommt hier hin, erholt sich, stiftet Unfrieden zwischen den Menschen, die hier leben, und reist bester Laune wieder ab.

Bei mir hat sie den Bogen überspannt. Sie wollte sich mit mir anlegen. Das war vor vier Jahren. Seitdem ignoriere ich sie. Es ist mir zuwider, mich in ihrer Nähe zu befinden. Begegne ich ihr, dann gehe ich schweigend an ihr vorbei. Jedes Mal ist es ein Triumph für mich. Jedes Mal ist es für mich, als sagte ich ihr: „Du siehst, ich habe es nicht vergessen. Du dachtest, Du könntest es mit mir machen wie mit den Anderen, nicht wahr? Du dachtest, Du könntest ungestraft Gift über uns ausschütten und damit davon kommen. Du dachtest, dass es keine Konsequenzen hätte, wenn Du Dich in Deiner Selbstgerechtigkeit mit mir anlegst. Nun schau. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, erinnere ich Dich an die Konsequenzen. Alles hat Konsequenzen. Nur die meisten siehst Du nicht. An diese erinnere ich Dich aber. Du sollst nicht stillschweigend damit davon kommen!“ Ich mag sie nicht!

Nun geht sie den Weg entlang. Mit ihrem Mann. Sie schauen beide auf unser Grundstück. Ich sehe, wie sie gehen, wie sie schauen und wie sie über das Gesehene redet. Die Grundstücksgrenze ist lang und ich sehe es durch das Fenster von Anfang an. Ich habe den Drang, hinaus zu gehen. Mich zu zeigen. Ihr zu zeigen, dass sie nicht heimlich einfach wieder Gift über uns verspritzen kann, dass ich es alles sehe und dass ich es alles weiß. Alles hat Konsequenzen. Mit allem muss sie sich irgendwann konfrontieren. Das möchte ich ihr zeigen. Das möchte ich ihr in diesem Moment sagen.

Sie gehen an unserem Grundstück vorbei. Er dreht sich sogar noch drei Mal um. Beäugt die Einfahrt, das Carport, die Autos. Dann sind sie vorbei. Ich spüre Wut. Ich spüre sie wieder verebben. Was verursacht diese Wut? Frage ich mich. Wie kann diese Frau diese Gefühle in mir verursachen? Diese Wut, dieses Nicht-Mögen, dieses Zuwidersein, diesen Triumph, wenn wir uns begegnen? Frage ich mich. Es ist die Trennung, die Gerda erzeugt, antworte ich mir. Durch diese Trennung erzeugt sie in mir Schmerz. Es ist der Schmerz des Getrenntseins, der mit dem inneren Wunsch nach Einheit und dem Wissen um diese Einheit kollidiert. Jeder von uns hat diesen Wunsch nach Einheit. Wahrscheinlich auch Gerda. Und jeder von uns schreit wie ein verletztes Kälbchen, wenn ein Anderer ihm durch Wort und Tat diesen Schmerz der Trennung zufügt. Die einen schreien laut auf, während die anderen den Schmerz in sich weiter tragen oder ihn vielleicht gar nicht mehr bewusst wahrnehmen. Jeder wird durch diesen Vollzug der Trennung in den Bereich der Angst und der Wut und – schlimmstenfalls – in den Bereich des Hasses getrieben. – Nein. Nicht Jeder, aber Jeder, dessen Wahrnehmung nicht fest genug im Seelischen gegründet ist. Jeder, der mehr das materielle Getrenntsein als die seelische Einheit wahrnimmt.

So habe ich mir meine Fragen noch am Fenster stehend selbst beantwortet. Ein weiteres Mal. Ein hundertstes Mal. So habe ich zu hundertsten Mal erkannt, wie weit ich noch zu gehen habe und wie sehr ich noch in der Getrenntheit verhaftet bin. Jedes Mal, wenn die Wut abebbt, nachdem ich Gerda über mich habe reden sehen, weiß ich, dass sie meine Prüfung sein wird. Jedes Mal weiß ich, dass ich irgendwann einmal stehen bleiben muss, wenn wir uns begegnen – und dass ich mich entschuldigen muss. In aller Demut und in dem Wissen, dass wir alle eins sind. Ich weiß das und so ist der Triumph auch immer nur ein kurzer und ein kindischer, wenn ich schweigend an ihr vorbei gehe. Ich spüre dann, wie tief ich in diesen Momenten dem materiellen Verstand ausgeliefert bin. Ich fühle mich dann nicht gut.

Ich bin gespannt, auf den Zeitpunkt, an dem ich Gerda in Demut begegnen kann. Ich werde dann ein ganz neuer Mensch sein. Ich freue mich auf diesen Zeitpunkt und kann ihn eigentlich kaum erwarten. Aber ich muss warten. Er kommt von alleine. Ich kann nichts dazu tun, um seine Ankunft zu beschleunigen. Er wird kommen und ich werde meine Prüfung mit Freunde ablegen und um so viel freier sein, als ich es mir vielleicht heute überhaupt vorstellen kann.

Ich muss Gerda danken, dass sie mir diese Einsichten ermöglicht. Auch sie ist einer meiner großen Lehrer.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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