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Riechen

Ein kühler sonniger Vormittag im April. Die Feuchtigkeit des nächtlichen Regens liegt noch in der Luft. Der Wind weht frisch aus West. Der Himmel blau. Nur eine verirrte, den Horizont überspannende und trotzdem doch so einsame graue Wolke verdeckt in schnellem Zuge die Sonne. Eine Wolke, so groß wie ein Schlachtschiff, dessen Umriss ich wie vom Grunde eines Sees, auf der Wasseroberfläche über mir schwimmend, betrachte. Die Kühle nimmt zu in dieser künstlichen Dämmerung. Ich stehe und schaue, wie die Wolke zieht. Sie zieht schnell, als wäre sie sich bewusst, dass sie an diesem klaren, blauen und kühlen Himmel fehl am Platze ist. Als wüsste sie, dass sie die wärmende Sonne jetzt nicht zu lange verdecken darf. Zügig will sie sich davon stehlen. Gar nicht lange stören. „Entschuldige! Mein Fehler. Bin gleich wieder weg!“, höre ich sie fast zu mir sagen. Dann beginnt sie zu leuchten. An den hinteren Rändern wird das grau zu weiß. Ein Leuchten, das zu einem Gleißen wird, je näher die noch verdeckte Sonne an den Rand der Wolke rückt. Der Wolkenrand dreht sich hoch oben im Himmel in kleinen, langsamen Spiralen, die, der Strömung des Windes folgend, sich in ihrem drehenden Tanz im Licht der nahenden Sonne auflösen. Ein Zaubertrick. Sie verschwinden, in Zeitlupe wirbelnd, vor meinen Augen im Nichts. Und dann kommt sie! Ich muss meinen Blick abwenden, denn niemand kann ungeschützt lange ihr ins Angesicht schauen. Die Sonne überschreitet den Rand der Wolke und in Sekunden steht sie wieder klar und herrlich wärmend am blauen Firmament. Die Dämmerung ist vorbei. Und das Frösteln ist nur noch eine vage Erinnerung.

Eine vage Erinnerung… Eine andere vage Erinnerung taucht auf vom Grunde des tiefen Sees. Dieser Himmel. Diese Wolken. Diese wunderbar klare früh-frühlingshafte Kühle, die nur durch das Licht der Sonne in Wärme verwandelt wird. Das linde, erst Tage junge Grün der Bäume um mich herum. Der Wind… Ich erinnere mich an die vielen Male, in denen ich einem solchen Moment beigewohnt habe. Als Kind. Ich erinnere mich daran, wie die Luft damals roch und wie die Erde. Und auch, wie ein Schneetag im Winter damals roch und was er zu mir sagte. Die Stimmen des Sommers und das darauf einstimmende Gefühl. Die Sprache des Lichts, wenn es auf die Haut traf. Das Wissen, wenn man eine Handvoll Erde in die Hand nahm und sie so anders und so neu wahrnahm…

Ich werde traurig. Das, was ich Erinnerungen nannte, war so schwach und so blass. Sie alleine reichen nicht, um in dieses ewige Wissen der Kindheit zurückkehren zu können. Das Riechen, das Schmecken, das Fühlen, das Sehen, das Hören… es ist alles nicht mehr da. Es ist verloren gegangen… Irgendwo auf dem Weg durch die Jahre meines Lebens.

Ich werde traurig und sehne mich danach, die Welt noch einmal so erfahren zu dürfen. Noch einmal die Jahreszeiten, die Tage, die Abende, das Licht und die Dunkelheit, den Himmel, die Wesen und die Erde, so wahrnehmen und erkennen zu dürfen, wie es mir als Kind vergönnt war. So rein, so klar, so vielfältig und so voller Geheimnisse und voller Wissen, das nun so verloren und nicht mehr spürbar, geschweige denn sag bar ist.

Ich ziehe tief die Luft durch meine Nase ein. Tief. Ganz tief. Nein. Ich rieche den Tag nicht mehr so, wie ich ihn einst gerochen. In einem Atemzug lag damals die unaussprechliche Antwort auf alles Geheimnis. Nun rieche ich und rieche und ich weiß nur, dass ich die verlorene Antwort nie wieder zurück erhalten werde. Sie bleibt nur eine vage Erinnerung, diese Antwort ohne Frage. Nicht greifbar, wie eine Gestalt im Nebel, deren Umriss man gerade noch erkennt, nur um sich bewusst zu werden, dass das, was man klar in seiner Erinnerung vor sich zu sehen glaubt, nichts mit dieser mehr und mehr auf immer und ewig verschwindenden Gestalt im Nebel mehr gemein hat.

Ich atme tief ein und bitte darum, noch einmal einen Tag in seiner Ganzheit riechen zu dürfen. So wie ich es als Kind getan habe… Einmal noch das unsagbare Geheimnis erfahren zu dürfen…

Sehen ohne Seele ist kein wirkliches Sehen. Fühlen ohne Seele ist kein wirkliches Fühlen. Die Wahrnehmung der Welt ist nicht ganz ohne die Wahrnehmung der Seele. So viel Wesentliches fehlt. So viel für uns Dürstende Notwendiges fehlt!

Es ist die Rückkehr, die wir anstreben müssen. Die Rückkehr zur vorbehaltlosen Wahrnehmung der Welt. Dann riechen wir wieder, was wir nur mit der Seele riechen können.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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