Ich bin kein Bibelausleger. Ich bin nicht einmal mehr Mitglied der Kirche. So mögen alle Bibel-Fachspezialisten verzeihen, wenn ich jetzt hanebüchenen Unsinn erzähle. Es sei mir hoffentlich in meiner Unwissenheit der wahren Bibelauslegung erlaubt.
Vor vielen Jahren habe ich einmal die Bibel als Hörbuch gekauft (Ja, so etwa gibt es! Mit Bibel für den PC und automatischer Stichwortsuche!). Wiederum viele Jahre stand sie ungehört bei uns im Regal, bis ich eines Tages das Bedürfnis hatte, mir die Evangelien anzuhören. So hörte ich über Tage Stunde um Stunde die Lebens- und Wirkgeschichte von Jesus Christus. Ich dachte, ich wüsste ein wenig über ihn durch den Religionsunterricht meiner Schulzeit, aber ich war überrascht. Das, was ich hörte, war die Geschichte eines großen spirituellen Heilers! Eines Menschen, der die Wahrheit erfahren hatte und sich dieser Wahrheit in aller Konsequenz hingegeben hat. Bis zu seinem vorhersehbaren gewaltsamen Tode. Wer in jenen Zeiten den Einflussreichen so auf die Füße gestiegen ist, musste damit rechnen. Ein heiliger Mystiker, dessen Worte und Handeln mir so klar erschienen. So völlig ohne Interpretationsbedarf. So klar in ihrer inneren Wahrheit. Er hatte sie wirklich geschaut!
Nun war er selbst als Sohn Gottes (wie wir alle Kinder Gottes, des Göttlichen, der Göttin oder ganz anders sind) ein Kind seiner Zeit und nahm als Rahmen für seine Lehren das damalige aktuelle Denken in weltlicher und religiöser Hinsicht auf. Dies änderte aber nichts an der inneren ewigen Wahrheit seines Erkennens. Er drückte es nur seiner Zeit entsprechend aus. „Leider“ möchte man fast sagen. So sprach er eben von Gott, dem Vater, wenn er sich dem einfachen Menschen zu dieser Zeit erklären wollte. Die Tradition des alten Testamentes hat nun einmal diesen personalisierten Gott mit seinen allzu menschlichen Eigenschaften, die ihn für uns wie den alten Mann mit Bart aussehen lassen.
Hätte Jesus versucht, seine Erkenntnisse über das Göttliche abstrakter zu fassen (vielleicht als das chinesische „namenlose Dao“, den „Weg“), so wäre er wahrscheinlich von seinen Zeitgenossen nicht verstanden worden. So sagt er dann „Sohn Gottes“ und „Gott der Vater“. Er meint sicher nicht einen Mann mit menschliche Eigenschaften, der in einem Stuhl sitzt und uns liebt und auch straft und auf menschliche Weise zeugt. Letztlich sprach auch er von der göttlichen, alles schöpfenden, unaussprechlichen Kraft.
Die Erwähnung von Strafe zeugt für mich in erster Linie von der Erkenntnis, dass es eher zum Rechten führt, sich dem Göttliche zuzuwenden und nicht dem Weltlichen zu viel Bedeutung beizumessen. Aber nicht zum „Rechten“ nach menschlicher kleiner Vorstellung von Moral und erhobenem Finger. Sondern zum Rechten jenseits dieser Vorstellung. Dem ewig Rechten. Dem nicht sagbaren Rechten. Jesus hat die ewige Wahrheit erkannt, die für den kleinen einfachen Bewohner von Judäa – mit all seinem irdischen Streben und materiellen Wünschen – nicht sofort ganz einleuchtend war. Alles hinter sich lassen, alles spenden und die rechte und linke Wange hinhalten… das ist heute nicht besonders angesagt und war es vor 2000 Jahren wohl auch nicht. Also benutzte Jesus das Bild der Strafe, um Nachdruck zu erzeugen. „Leider“ möchte man im Rückblick auf die Geschichte wieder sagen.
Aber die Strafe, die Jesus meint, ist etwas anderes. Sie hat nichts mit weltlicher Vorstellung von Strafe zu tun. Die Strafe ist ein Leben ohne Einheit. Sie ist selbst zugefügt. Es ist eine Strafe, die sich auf Anhieb nur dem spirituellen Menschen erschließt. Dem materiellen Menschen ist sie nicht ersichtlich. Denkt er doch, dass er gesegnet sei, wenn er alle materiellen Wünsche befriedigt sieht.
Ich schlage an dieser Stelle kurz einen Bogen zu einer daoistischen Geschichte: Ein Mann sprach zu einem Weisen: „Man sagt, dass das Streben nach dem Dao reich machen soll. Wenn ich aber Gold und Jade habe, dann bin ich auch reich. Warum sollte ich da nach dem Dao streben?“
Der Weise gibt daraufhin eine Menge an Gemeinplätzen wieder, in der Richtung, dass man von den anderen Menschen geachtet wäre und nicht in Gefahr käme und so weiter. Dabei führt er diese Gründe auffallend langatmig und konfus aus. Selbst dem wohlwollendsten Leser muss die Erkenntnis kommen: „Na wenn dem Weisen da nichts Besseres einfällt, dann bleib ich auch lieber bei Gold und Jade.“ Als ich die Geschichte zum erstem Mal gelesen hatte, war ich verblüfft und konnte diese scheinbare Plattheit nicht fassen. Das war nicht die richtige Antwort, die der Weise dort gegeben hatte! Ich las diese Geschichte immer wieder und irgendwann erkannte ich dann zu meiner Erleichterung: Genau das will diese Geschichte erreichen. Der Leser erkennt, dass einem Materialisten mit Worten das Geheimnis des Dao nicht vermittelt werden kann. Dass es im Diskurs, in Worten überhaupt nicht ausdrückbar ist. Es wird immer blass und leer bleiben. Und der Materialist wird ungerührt die Achseln zucken, sich bestätigt fühlen und mit Gold und Jade seines Weges gehen.
So ist dieses Problem epochen- und kulturübergreifend. Die Herangehensweise an dieses Muster ist nur unterschiedlich: Dem daoistischen Weisen ist es egal. Wen er nicht erleuchten kann, der bleibt eben unerleuchtet. Jesus ist es anscheinend nicht egal. Er möchte die Menschen auf ihren Irrtum hinweisen und konstruiert das Bild der Strafe, um ein „schlagendes“ Argument gegen Gold und Jade zu haben. Wenn sich das wahre Argument schon nicht sagen lässt. „Leider“.