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Die Sprachrohre der Götter

An einem Tage stand ich im Garten vor unserem Hause, schaute auf die Hauswand und sann so vor mich hin, wie ich denn den Gebäudesockel, dessen Farbe hier und da ein wenig abblätterte, wohl streichen könne. Es wird ein Tag im Frühjahr gewesen sein. Die Zeit, in der auch die Ideen zu sprießen beginnen. Die Zeit, in der Zeit für Erneuerungen ist.

Wie ich da in meinen Gedanken versunken so stehe, ruft mich eine Stimme lautstark von hinten an: „Naa? Nix zu tun?“ kräht sie. Ich zucke – unsanft aus meinen Gedanken gerissen – unmerklich zusammen, schließe innerlich für eine halbe Sekunde die Augen und drehe mich um. Und dort stehen sie: Meine zwei Göttersprachrohre. Klaus, mein Nachbar und seine Frau Berta. Er ist 69 Jahre alt, gelernter Tischler und als Lokomotivführer nach mehreren Herzinfarkten frühzeitig in Pension gegangen. Er hat nur noch wenige Zähne im Mund. Das System der privaten Krankenversicherungen hindert ihn daran, zum Zahnarzt zu gehen. Er kann es sich nicht mehr leisten. (Ja, Ja. Selbst Schuld. Er hatte doch seine Vorteile in der privaten Kasse in jungen Jahren. Hätte er vorher wissen sollen, dass das teuer wird. Ja, Ja. Ich weiß…) Wer ihn sieht, der schätzt ihn sicherlich zehn Jahre älter. Seine Frau Berta mit ihren zwei Zöpfen steht neugierig daneben. Beide sind kugelrund und sie ist etwas schwerhörig. Wenn Berta redet, wird sie schnell enthusiastisch und daraufhin recht laut und schrill. Manchmal habe ich dann das Gefühl, nur noch mein Blut in den Ohren rauschen zu hören und bald in Ohnmacht fallen zu müssen. Und wenn Berta redet, dann redet sie gerne und viel. Heute steht ihr aber anscheinend nicht der Sinn danach.

Beide sind herzensgute Menschen, denen man es ansieht, dass sie sich nach den vielen Jahren ihrer Ehe immer noch lieben. Nie um einen Rat und Hilfe verlegen. Menschen, die vieles mit einem teilen würden. Auch wenn man nur ein entfernter Nachbar ist.

Vor allem sind sie aber durch und durch praktisch veranlagt. Daher nenne ich sie meine Sprachrohre der Götter. Praktisch ist ein Begriff, den meine Frau geprägt hat, wenn sie versucht, meine Art und Weise zu beschreiben, in der ich beispielsweise gewisse Probleme rund um unser Haus löse. Die Lösungen sind in der Regel nicht schön. Sie erfüllen ihren Zweck. Und das genau so lange, wie es notwendig ist. Danach brechen sie zusammen oder lösen sich auf. Praktisch eben. Sie sagt das immer mit einem etwas ironischen und belustigten Unterton. Manchmal schleicht sich aber auch ein Hauch von Verzweiflung ein. Ich kann es aber nicht anders. Es bedeutet, die Dinge so zu tun, wie es die Natur ebenfalls tut. Alles ist vergänglich. Alles hat seinen Zweck. Und alles hat auch seine Zeit. Danach geht es wieder.

Im Vergleich zu Klaus und Berta aber ist alles, was ich mache, das Werk eines eitlen Pfauen! Sie sind noch um so vieles praktischer als ich!

Mit dem Anflug eines anerzogenen schlechten Gewissens, das sich immer mit einem beunruhigenden Automatismus einstellt, wenn ich des Müßiggangs bezichtigt werde, erkläre ich ihnen, dass ich durchaus nicht einfach nur tatenlos im Garten herum stehe und Löcher in die Luft starre. Ich führe aus, dass ich mir, ganz im Gegenteil, wichtige Gedanken über einen neuen Anstrich mache. Vielleicht in Schwedenrot… oder so.

Nun lassen es die Götter donnern! Einmal nur gehe ich über rein praktische Erwägungen hinaus und schon werden mir ihre Boten zur Strafe geschickt!

„Rot?!“ kräht es ungläubig, fast schon ein bisschen angriffslustig, zurück. „Warum nicht gleich Rosa!?!“

Klaus stützt sich auf mein provisorisches Gartentor, das sich bereits bedenklich zu neigen beginnt. So, nun unvermittelt aus meinen schönen Erwägungen in ein Verhör geraten, fällt mir keine Antwort ein. Meine Gedanken kreisen um Rechtfertigungen. Aber ich merke, in den Augen dieser beiden Titanen des Praktischen wird alles unzureichend klingen. Ich ringe mir ein schmerzhaftes Grinsen als erste Entgegnung ab und erwidere mit um gnädiges Verständnis heischender Stimme: „Naja – weiß nicht – dachte, Rot passt vielleicht ganz gut.“ ‚Schwach. Ganz schwache Argumentation. Herzlichen Glückwunsch. Jetzt halten sie Dich wirklich für einen völlig überspannten Schöngeist‘ geht es mir prompt durch den Kopf.

„Schwarz! Bitumen!“ kräht es zurück, meine schwache Erwiderung gnadenlos ignorierend. „Das hält! Kommt kein Wasser durch! Kostet im Baumarkt nur ein paar Euro und ist genauso gut wie Sockelfarbe! Aber viel billiger!“

„Ach?“ zeige ich mich höflich überrascht und interessiert. „Das gibt es?“

„Klar!“ kräht es. „Kannste Dir mal bei uns angucken. Haben wir rundrum. Rot!“ Berta nickt freundlich.

Klaus lässt von meinem Gartentor ab und es richtet sich wieder ein wenig auf. Wenn auch nicht so weit, wie es vor dem Besuch der beiden einmal gewesen ist. Sie setzen ihren morgendlichen Spaziergang fort und lassen mich alleine mit neuen Gedanken. Oder besser mit alten Gedanken, die sie – unwissend, wie Sprachrohre der Götter – in mir wieder geweckt haben.

Sie hatten ja so recht! Warum nicht gleich rosa! Ich erkannte den Tand und das un-sinnige Ausschmücken und Schönmachen in meiner Absicht, den Sockel neu zu streichen. Mein Gedanke war „Was fehlt Dir, dass Du Dich auf so einen Unsinn konzentrieren willst? Welches Gleichgewicht hat sich verschoben, dass außer der Funktion der Substanzerhaltung dieser Anstrich auch noch schön sein muss? Und warum schwelgst Du in solchen Gedanken? Ist der Ort nicht gut, wie er ist? Warum lässt Du Dich durch Dein Ego zu so etwas hinreißen?“ Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort hatte.

Der graue Sockel ist bis heute noch nicht gestrichen. Schadhafte Stellen wurden mit weißer, günstiger Mauerfarbe ausgebessert, so dass keine Feuchtigkeit eindringen kann. Zu „Bitumen-Schwarz“ konnte ich mich aber doch noch nicht durchringen.

Ich möchte mit dieser Geschichte keinem erzwungenen Verzicht auf Schönes predigen! Während eines Gesprächs, in dem ich auf mein kleines altes Auto zu sprechen kam, schaute mich eine Teilnehmerin lange skeptisch an und sagte dann – nach reiflicher Überlegung – in ihrem Eifeler Dialekt: „Ein neues Auto ist aber schon was Schönes, oder!? Ich freue mich über mein neues Auto!“ Ich stimmte ihr völlig zu und erzählte ihr von den Fahrzeugen, die ich im Laufe meines Lebens besessen hatte und welche Freude ich an ihnen hatte. Nur ist jetzt nicht die Zeit für mich, mich um neue Autos zu sorgen oder meine Aufmerksamkeit darauf zu richten. Und so verhält es sich auch mit dem Sockel: Wenn wir unbedingt einen roten Sockel hätten haben müssen: Wir hätten ihn bekommen. Kein Dogma hätte dagegen gesprochen. Ich hätte die Farbe gekauft, meine Frau hätte mich angeschaut, an meine praktische Veranlagung gedacht und gesagt: „Lass mich das mal streichen.“ Da die obigen morgendlichen Erwägungen aber nur eine schöne sportliche Übung meines Verstandes waren, mit dem Ziel, wieder mehr Einfluss auf das äußere Geschehen zu erhalten, blieb der Sockel grau.

Würden Sie das Haus von Klaus und Berta sehen, wären Sie sicher sprachlos im Angesicht dieses Alptraumes in Grau und Schwarz und Beton. Es ist aber nur ein Alptraum in unseren hiesigen gesellschaftlichen Kategorien. Ich glaube, hinsichtlich der Ewigkeit und jenseitiger Wahrheiten ist das Haus von einer ganz besonderen ewigen und universellen Traumhaftigkeit.

So haben diese beiden einfachen Leute mich noch so vieles gelehrt, dass ich nur noch einmal wiederholen kann: die Götter sprachen aus ihnen. Und die Götter sagten mir immer: „Verrenne Dich nicht! Dieser Ort ist gut, wie er ist. Er bietet Dir Schutz, Wärme und Obdach. Er braucht nichts von Dir. Häng Dich nicht an das Äußere. Begreife das Innere und erkenne, dass Du morgen vielleicht schon nicht mehr hier bist. Und wie willst Du freudig gehen, wenn Du es Dir hier sooo schön gemacht hast?“

Eine solche Befreiung, wie die, in der diese Beiden leben, ohne sich dieser Gnade bewusst zu sein, habe ich bis heute nicht erreicht. Vielleicht kann ich sie auch nicht erreichen, allein, weil sie mir bewusst ist.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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