„Ich bin gewachsen…. Ich bin – gewachsen.“ sagte Iris. Sie war gerade aus einer schamanischen Trance zurückgekehrt, hatte sich aufgesetzt und schaute mir tief in die Augen. Ich verspürte großes Glück, fasste sie an der Schulter und sagte lächelnd: „Ja, Du bist gewachsen!“
Das, was Iris spürte, drückte sie mit dem Begriff Wachstum aus. Sie hätte auch sagen können: „Ich habe keine Angst mehr!“ Denn das ist es, was wirklich in ihr geschehen ist. Sie konnte dies aber nicht ausdrücken, weil ihr diees Geschehen als solches nicht bewusst war. Durch die schamanische Trance wurde das Pendel ihrer Wahrnehmung aus dem Bereich der fünf Sinne – des Verstandes – in Richtung des seelischen Sinnes verschoben. Ihre Wahrnehmung, das Bewusstsein(!), das wie bei den meisten Menschen unwissentlich vom Schmerz des Getrenntseins und der daraus resultierenden einsamen Angst dominiert wird, gab die fünf Sinne in hohem Maße auf und nahm dafür, in dem Maße dieses Aufgebens, die Geborgenheit in der Einheit über den Seelensinn wahr. Die Wahrnehmung der Angst wurde durch die Wahrnehmung seelischen Wissens ersetzt. Die Welt wurde verändert! Iris konnte es so nicht ausdrücken, weil die Angst, die nun – zumndest in Teilen – von ihr gegangen war, so tief in den Menschen steckt, dass das Bewusstsein diese Angst als einen normalen Seinszustand ansieht. Geht diese Angst, diese Last, fort, dann ist es ein Gefühl, wie … „Wachstum!“ Ein guter Begriff. Denn eine Last ist etwas, was wir zusätzlich tragen. Eine Last ist kein Teil von uns, der zu unserem natürlichen Sein gehört. Unser natürliches Sein tragen wir ohne Anstrengungen, denn dafür sind wir gemacht und stehen mit ihm im Einklang. Das Wachstum entsteht dann, wenn wir uns einer Last entledigen und nicht mehr gebeugt gehen oder gar auf allen Vieren kriechen müssen. Also ist letztendlich auch gar nicht gewachsen, sondern sie ist „lediglich“ ihrem natürlichen Zustand, den sie nur – wie die meisten von uns auch – hat verkümmern lassen, wieder ein Stück näher gekommen. Die Größe ist also immer in uns!
Es hängt von jedem Einzelnen und den Umständen ab, ob und wie lange er angstfrei oder -arm bleibt. Dass die Angst wiederkehrt, sobald wir uns wieder in den „Alltag“, sprich in die Welt des Verstandes und des Materialismus, begeben, ist nahezu unvermeidlich. Zu sehr werden wir durch unsere Umwelt, die ein Jahrtausende altes, ausgefeiltes und mittlerweile lückenlos geschlossenes Konstrukt des Verstandes ist, wieder weit mit unserem Pendel in die Wahrnehmung der fünf Sinne und somit in die Dominanz des Schmerzes und der Angst gezogen. Dies geschieht, ohne dass es uns unbedingt bewusst wird und aus dem einfachen Grund, weil das uns lückenlos umgebende Verstandessystem auf Schmerz und Angst gegründet ist. Der Schmerz und die Angst sind ein Dauerzustand in unserer Wahrnehmung, der uns deshalb meistens nicht besonders auffällt. Dies ändert sich, wenn wir – einmal oder auch öfter – wahrnehmen durften, wie die Welt sich verändert, wenn wir einmal von der Angst und dem Schmerz befreit sind, wenn wir uns befreien durften von dieser Last und – wuchsen. Ich sage mit Absicht, „wie sich die Welt verändert“ und nicht, „wie wir die Welt anders sehen“ oder etwas ähnliches, denn es handelt sich um eine wirkliche Veränderung, eine Veränderung, die wirksam ist und nicht nur in unserer „Vorstellung“ existiert.
Ich bin selbstverständlich auch diesem schwingenden Pendel unterworfen. Oft genug werde ich von den äußeren Umständen, die in unserer Gesellschaft immer verstandesorientiert sind, aus dem Vertrauen in die Angst gezogen oder geschoben. Ich spüre es dann, wenn ich beginne mir Gedanken um Zukünftiges zu machen. Wenn ich mich zum Beispiel frage, was ich denn bei einer kommenden Veranstaltung erzählen soll. Wenn ich mich frage, ob die Teilnehmer mich vielleicht überkritisch betrachten werden und ob mir nicht die richtigen Worte fehlen werden, ihnen mein Anliegen zu erklären. Wie werde ich dann dastehen!? Und ich spüre, wie ich Angst habe vor diesem Termin, der immer näher rückt. Ich spüre, wie mir jegliches Vertrauen fehlt. Jegliches wahres Wissen.Diese Entwicklung ist schleichend. Sie ist so schleichend, dass sie mir selbst fast nicht auffällt. So normal lässt unser Denken diese Wahrnehmung erscheinen, dass ich manchmal sehr lange in dieser Verfassung verweile, bis mir klar wird, wie weit ich mich eigentlich von meinem seelischen Wissen entfernt habe und wie sehr mein Verstand übernommen hat. Dann ist es Zeit zu „handeln“. Es ist eigentlich ganz „einfach“. Nachdem ich von auf mich einwirkender Verstandestätigkeit in meiner Wahrnehmung korrumpiert worden bin (Sorge! Angst! Unwohlsein! Unsicherheit! Einsamkeit!), muss ich nun mein Pendel wieder in Richtung Seelensinn (Einheit! Wissen! Liebe! Demut! Kraft!) verschieben. Ich gehe in Meditation oder in schamanische Trance. Ich setze mich in den Wald und lasse mir dort vieles durch meine seelische Wahrnehmung erzählen. Mein Pendel schwingt zurück – und auf einmal ist die Welt neu. Meine Angst ist gegangen, ohne dass ich etwas tun oder mich beruhigen oder besser vorbereiten musste. Ich bin in meiner (besser: in Gottes) Kraft. Ich kann mich auf die Veranstaltung freuen. Ich werde dort hingehen wie immer: ohne Konzept, ohne Plan und ohne eine Vorstellung, was ich dort die ganze Zeit erzählen und tun werde. Ich bin geborgen in der Einheit und weiß, dass es das Richtige für mich und die Teilnehmer sein wird. Ich weiß, dass ich die Worte haben werde, weil sie mir rechtzeitig gegeben werden werden. Ich bin glücklich, weil ich mich so darauf verlassen kann. Ich bin so glücklich, wie ich es in dem Moment war als ich neben Iris saß und sie mir sagte „Ich bin gewachsen…“ Dies ist die Art und Weise, in der auch dieses Buch entstanden ist. In dem Vertrauen, dass die Worte die Richtigen sein werden. Ohne Angst und ohne Zweifel aufgeschrieben. Ohne Nachzudenken und in dem Wissen, dass ich geborgen bin in der seelischen Einheit und dass alles recht werden wird.
Die Welt ist neu ohne Angst. Die Angst des Getrenntseins ist eine Illusion. Eine Illusion, die uns alle Kraft raubt. Wechseln wir aus dem Bereich des Schmerzes und der Angst in den Bereich des Wissens und des geborgenen Vertrauens, dann erkennen wir erst, wie stark wir eigentlich sind. Wie fest wir stehen und wie hoch wir uns aufrichten können, um dann unsere natürlich vorhandene Größe einzunehmen. Welch aufragende Felsen mit tiefem Fundament, welch gewaltige Bäume mit tiefen Wurzeln und in den Himmel aufragender Krone wir sein können. Welch mächtige Ströme und Flüsse, die sanft, stetig und sich windend ihren Weg um alle Hindernisse herum oder in Jahrmillionen hindurch finden, wir sein können. Welch mächtige Winde, die die Welt in allen Höhen umkreisen, wir sein können. Welch feste und tragende Erde wir sein können. Es ist schon so: Wer Menschen beherrschen will, der muss sie in Angst halten.