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Die Kunst der Fuge

John Steinbeck verehrte ihn. Aldous Huxley und Albert Schweitzer auch. Douglas Adams tat es und viele, viele andere Menschen verehren ihn auch heute: Ich spreche von dem Komponisten Johann Sebastian Bach. Immer wieder stieß ich auf entsprechende Aussagen, die dessen Genie oder die Genialität seines Werkes rühmten. Besonders erwähnt wurde mehrmals ein Werk namens „Die Kunst der Fuge“. Immer fragte ich mich beim Lesen, wie diese Autoren zu diesen immer gleichen Ansichten denn kämen. Sicherlich waren sie alle keine ausgesprochenen Musiksachverständigen, die die Genialität eines Komponisten so kategorisch hätten beurteilen können – mit Ausnahme Albert Schweitzers vielleicht; der neben seinem humanitären Werk noch Orgeln baute, spielte und Orgelstücke komponierte. Hatten sie diese Ansichten aus zweiter Hand? War es schick, in gebildeten Künstlerkreisen, diese Ansicht zu pflegen („Bach? Natürlich, ein Genie! Ich verehre ihn.)? Besonders aufmerksam machte mich folgende Tatsache: Adams war bekennender Atheist und Steinbecks Ansichten folgten – liest man „Logbuch des Lebens“ – auch der Ansicht, dass alle Entwicklung auf der Welt einem rein evolutionären Plan folge. Beide rühmten die mathematische Präzision des Werkes und Steinbeck ging sogar soweit, zu sagen, dass Bach es mit der „Kunst der Fuge“ fast geschafft hätte, den Weltensinn zu erklären. Wow! Was war es, was den Atheisten Adams und den (zumindest damaligen) Evolutionisten Steinbeck zu ihren Ansichten brachten? Diese Frage ließ mich nicht mehr los und ich besuchte einen Freund, von dem ich wusste, dass er eine gut sortierte klassische CD-Sammlung besaß und lieh mir von ihm „Die Kunst der Fuge“ aus. Zuhause angekommen legte ich die CD ein und setzte mich auf unsere Couch. Ich hörte mir die CD zweimal an. Mit geschlossenen Augen forschend, was es denn sei, was in dieser Musik steckte. Danach entnahm ich die CD dem Abspielgerät, steckte sie wieder in die Hülle und gab sie meinem Freund zurück. Albert Schweitzer äußerte sich ungefähr so, dass dieses Werk eine seltsame kühle Faszination habe, die einen nicht mehr loslassen würde. Etwas erstaunliches lebloses aber doch so faszinierendes. Und das war es, was sich mir akustisch bot. Ein Werk in perfekter mathematischer Präzision. Die verschiedenen Stimmen und ihre melodischen Themen präzise variierend, einsetzend und verklingend. Vor meinen Augen entstand das Bild eines wunderschönen, komplizierten und kristallenen sich langsam und präzise drehenden Uhrwerks. In mitten eines Eispalastes. Bei Temperaturen von 85° Celsius unter dem Gefrierpunkt. Ich konnte mir nun genau vorstellen, wie der Atheist Adams diesen Klängen lauschte und wie Steinbeck bei einem Bier oder Wein mit seinem Mentor und Freund Ed Rickerts vor dem Plattenspieler saß und entrückt von der Klarheit dieser Klänge den Finger leicht hob und sagte „Jetzt! Jetzt, hier hat er es fast geschafft! Ganz nahe sind wir jetzt, dem Begreifen!“

Ich habe die CD nie wieder gehört. Steinbeck unterlag meines Erachtens einem Trugschluss. So wunderbar klar und beruhigend diese Musik auf den Verstand einwirkt, so sehr sie ihn bestätigt in seiner Art zu funktionieren, so sehr sie seinem Verständnis der Welt nahe kommt, ihn beglückt und selig macht, weil er endlich jemanden hat, der ihn ganz versteht, der ihm mit dieser Musik eine Welt erschafft, in der er vollständig klar sieht und zur Ruhe kommen kann und sich zu Hause fühlt, weil alles berechenbar und vorhersehbar ist – endlich aufgehoben und geborgen – so sehr bleibt diese Musik im rein Dinglichen und bedient nur die eine Seite unserer Existenz. Es ist genau das kühle und präzise eisige Kristalluhrwerk meiner Vision. Es sagt Dir nichts über seinen Schöpfer (oder besser: seinen Ursprung). Es sagt Dir nichts darüber, warum sich die Räder so drehen, wie sie sich drehen. Ja nicht einmal darüber wer oder was es macht, dass sich Räder überhaupt drehen. Es ist ein Ding. In kristallener Präzision. Begrenzt von Zeit und Raum. Es ist soweit weg davon, die Erklärung der Welt zu bieten, wie alles andere vom Menschen gemachte auch. Es kann nicht erklären, was die Mathematik denn ist, auf der es beruht. Kann nicht zeigen, was den Ton, der klingt, denn zum Ton werden lässt. Es ist nur ein Objekt in der Welt der Dinge. Es sagt Dir: „Höre. Ich bin ein Ding. Und mehr biete ich Dir nicht. Was Du erhältst ist nicht die letzte Erkenntnis. Es ist Urlaub für Deinen Verstand. Deinem Verstand wird das reichen. Aber es ist nur die eine Seite.“ Und die andere Seite lässt sich durch schauen, hören, sehen, fühlen oder schmecken nicht erfahren. Sich nur auf das eine zu verlassen und es für das Ganze zu halten, ist der Trugschluss. Ich habe diese CD auch aus einem anderen Grund nie wieder gehört: Sie hat mir Angst gemacht. Während ich sie damals hörte, spürte ich, wie sehr sie meinen Verstand rief und wie sehr sie dem entgegen lief, was meiner sonstigen Wahrnehmung der Welt entsprach. Es war Nahrung für den Verstand, die ihn bestärkte, sich wieder zu kristallener mathematischer – für ihn beruhigend klarer – Präzision erheben zu wollen. Es ist beängstigend, zu spüren, welche Kraft in einem solch perfekten Ding, wie dieser Musik liegen kann. Und man kann begreifen, warum so viele Menschen – lebend in dieser perfekten Welt der Dinge – es nicht schaffen, darüber hinaus zu gehen.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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