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Die Aufklärer wanderten einst vor ihre Stadt….

Die Aufklärer wanderten einst vor die Tore ihrer Stadt. Städter waren sie. Sie kannten nur ihre Hand. Sie kannten nur Stein auf Stein. Von ihrer Hand geformt und geschichtet. Sie kannten nur ihre eigene Tat, geboren aus ihrem Verstand. Mehr kannten sie nicht. Nun aber wanderten sie einmal vor die Tore ihrer Stadt und durch ihre Ferngläser blickten sie sich um in der Welt. In ihrer Welt, so dachten sie. Und was sahen sie da nicht alles, was nicht von ihrer Hand geformt und geschichtet, was nicht aus ihrem Verstand entsprungen und von ihm durch seine Tat erschaffen! Vor allem die Bäume sahen sie. Die alten und gewaltigen, die ohne den Menschen ihre Majestät erreichten. „Das kann es nicht geben, denn es gibt nur das, was, von unserem Verstand geschaffen, seiner Kontrolle unterliegt.“ Das war ihr erster Trugschluss. Und was sahen sie nicht alles an Menschen bei diesen eigenartigen grünen Gestalten: die einen ruhten unter ihnen und wenn man sie rief, dann kamen sie einfach nicht! So verträumt waren sie und fort von der klaren Härte der Stadt. Andere nutzen die Bäume anders: Sie missbrauchten sie und sprangen von deren Ästen hinunter auf arglose Passanten und raubten sie aus! Verkauften den Orientierungslose und Leichtgläubigen zum darunter rasten grün angemalte Gestelle, die eher an Galgen erinnerten, als an Bäume. „Was ist das für ein unbegreifliches und schändliches Treiben. Die Bäume sind Lug und Trug. Schädlich in jeder Beziehung. Was sollen wir tun gegen etwas, was so der menschlichen Tat und dem Schichten von Stein auf Stein widerspricht?“ So sagten und fragten sie. Die Lösung des Problems war schnell gefunden: „Alle Bäume werden abgeholzt!“ Und so wurde es getan. „Kein Räuber soll mehr die Bäume benutzen, um arglose Bürger zu überfallen! Keiner wird mehr durch nachgemachte Bäume betrogen werden. Niemand wird sich, unter Bäumen ruhend, unserem Diktat entziehen. Bäume sind etwas sehr, sehr Schlimmes gewesen. Nun sind sie weg.“ Das war ihr zweiter Trugschluss. Emsig wurde nun jeder kleine Halm und jeder kleine Trieb ausgerissen und dem Feuer übergeben und dabei wurde gänzlich übersehen, dass die Räuber auch schon immer aus den dunklen Ecken der Städte heraus die Menschen überfallen hatten und dort bereits ein heilloses und unkontrollierbares Rauben herrschte. Betrogen wurde dort auch schon immer im großen Stil. Schindmähren wurden als Paradepferde angeboten und dem dummen Kunden zu Wucherpreisen verkauft. Aber die Pferdezucht wurde deshalb nicht als schändlich verdammt und daraufhin verboten. Sie unterlag ja der Kontrolle der Aufklärer. Das war für sie begreifbar. Menschlich halt, mit allem, was daran hängen mag, der Lug der Trug. Menschlich ist er eben. Anders als der Uralte Baum, der ganz ohne Mensch seine Majestät erreicht hat und immer wieder erreichen würde. Die paar Räuber in den Bäumen fielen ja eigentlich gar nicht ins Gewicht und die Betrüger mit den falschen Bäumen auch nicht. Aber nun waren es überzeugte Stadtmenschen, die das Abholzen beschlossen hatten und da ihnen deshalb die Bäume sehr fern und von je her unbegreiflich und suspekt waren, während Pferde und die dunklen Ecken in den Häuserschluchten ihnen viel, viel näher waren, taten sie nichts gegen die Räuber an diesen Orten und die Betrüger auf dem Pferdemarkt. Das war ja etwas anderes, irgendwie. So wurden die Betrüger und die Räuber in den dunklen Ecken natürlich mehr und das Rauben und das Betrügen nahm noch weiter zu, denn die Räuber und Betrüger von den Bäumen mussten sich nun andere Orte und Geschäftsfelder suchen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In den dunklen Ecken der Stadt war das Rauben ja erlaubt. Auf dem Pferdemarkt ja auch das Lügen und Betrügen.

In manchen – informierten – Kreisen wurde der Verdacht geäußert, der eigentliche Grund, warum die Bäume hätten gehen müssen, sei gewesen, dass niemand mehr träumend unter ihnen hätte liegen können sollen. Denn das erschien, so vermuteten diese Kreise, für die Obrigkeit die viel größere Gefahr. Der Mensch ruht – unkontrolliert und unbesorgt – und hört nicht mehr, wenn man ihn ruft.

Aber was jetzt an Betrug und Räuberei in den Städten vor sich ging, das war nicht mehr zu übersehen. Alle, die ehemals friedlich unter den Bäumen ruhten, mussten nun ja auch Betrug und Raub beginnen. Dies gefiel vielen Verantwortlichen dann auch nicht mehr. So deuteten sie die Situation um. „Nun, es ist nicht schön, mit dieser Räuberei in den dunklen Ecken der Stadt und dem Betrug auf den Märkten,“ sagten sie „aber es gehört doch zum Wesen der Stadt dazu. Wer beraubt wird, der kann sich ja auch seine dunkle Ecke suchen, wer betrogen wurde, der kann ja sich selbst einen Dummen suchen. Da kann dann aus einen Loss schnell ein Win werden. Wenn‘s Gewohnheit wird, wer will es dann noch bestrafen? Es ist die Natur der Städter. Natur! Noch besser! Es ist die Natur. Dagegen kann niemand etwas sagen. Hauptsache, diese Bäume – weiß überhaupt noch jemand, wie so was aussah? Bäume? – sind nicht mehr im Spiel. Das war damals eine Räuberei! In Bäumen! Und ein Betrug! Mit Bäumen! Unvorstellbar. Und die Menschen ruhten unter ihnen. Ein Witz. Diese Bäume. So fremd und sie förderten nur den Ungehorsam und den Betrug und das Rauben von Bäumen aus.“

So ging es dann weiter in dieser Welt ohne Bäume, in der alle so stolz auf deren Ausrottung waren. „Progressiv“ hieß das damals. Und progressiv wollte zu jener Zeit jeder sein. Die Räuber und Betrüger wurden immer mehr, denn die Beraubten und Betrogenen sahen keine andere Möglichkeit mehr zu überleben, als selbst auch zu Räubern und Betrügern zu werden.

Aber dann geschah etwas Seltsames. Langsam wurden die Leute in den Städten immer schwächer. Erst fiel es gar nicht so auf. Dieses Rauben und Widerrauben, das war so anstrengend, gerade für diejenigen, die für diese Arbeit nicht so ganz geeignet waren, dass man diese Schwäche auf die allgemeine Situation zurückführte. „Es ist das Leben eben.“ sagte man. Dann begann aus dieser leichten Schwäche schleichend eine Atemnot zu werden. Die Menschen fingen an zu japsen. Atemnot macht Angst. So wurden sie immer paranoider in ihrer Schwäche. Den stärkeren Räuber vermuteten sie hinter jeder Ecke und in jedem Wort und jedem Gesicht. Angst macht wütend. So wurden sie feindselig gegeneinander, während ihnen immer mehr die Luft zum Atmen weg blieb. Mit verschwommenem Blick, schwankend stierend reckten sie jedem drohend den Finger entgegen. Und nach der Wut da kommt der Hass. So begannen Sie sich zu gruppieren und stolpernd kämpften sie fortwährend gegeneinander. Präventivkämpfe, damit der andere nicht stärker werde als sie, während sie selbst weiter und weiter schwächer würden. Vernichten, solange man es noch kann. Jeder war irgendwann ein Gegner. Ein Feind. Denn die Menschen waren so schwach und so voller Schmerz und Angst. So toll vor Schmerz und Angst. Und sie japsten und jagten und töteten und raubten, mit blauen Lippen und dem Schweiß auf der Stirne.

Und einige fragten sich, woran das denn alles läge. Es wäre doch auch einmal anders gewesen. Das könne doch nicht normal sein. Das sei doch nicht ‚das Leben‘. Warum sei es denn hier wie in einem Irrenhaus? Was wäre denn zu tun, um Gottes Willen?! so fragten sie.

Doch es war noch etwas anderes geschehen. Es gab eine Gruppe von Personen, die anders waren als die meisten Menschen in den Städten. Viele von jenen waren auch damals an der Abholzung der Bäume beteiligt, denn sie und die anderen ihrer Gruppe konnten mit wenig und manche sogar ganz ohne Sauerstoff existieren. Instinktiv wussten sie damals schon, dass das Abholzen ihnen irgendwann einmal Vorteile bringen würde. Und so war es auch: Da, wo die anderen schwach wurden und auf Knien sich dahinschleppten und mit blanken Fäusten ihren Nächsten ausraubten und – zur Sicherheit – direkt erschlugen, waren jene stark. Ohne offensichtliches Leiden. Sie lebten im Überfluss, denn das tödliche Chaos um sie herum diente ihnen. Waren doch alle anderen mit rauben und töten und überleben beschäftigt, da konnte ihnen, die keinen Sauerstoff brauchten, niemand etwas anhaben. Und wollten sie etwas, dann gingen sie starken Schrittes hin und nahmen es einfach aus den Händen der Siechenden. Wer sollte sie hindern? Und nach den Regeln war es ja auch. Das Recht des Stärkeren. Ganz natürlich. So wurden sie zu den Führern der Verzweifelten und wenn sich jemand fragte, was denn zu tun wäre, um Gottes Willen!??!, dann sagten sie ihm: „Mein Bruder. Du raubst zu wenig. Raub noch mehr, dann wirst Du sehen, es wird Dir wieder besser gehen. Schau mich an: Habe ich nicht so viel und wie gut geht es mir? So kann es Dir auch gehen. Nur munter und frisch drauf los! Du wirst es sehen.“ Und sie verschweigen dem Frager, dass es einzig der Sauerstoff ist, der ihm fehlt. Und dass das Rauben ihm gar nichts nützen wird. Und dass sie nicht von seiner Art sind, sie gar keinen Sauerstoff brauchen. Und dass sie nicht leben. Dass sie tot sind und Totes anhäufen. Und dass nicht die Bäume schuld waren, sondern dass diese lebensspendend waren. Und dass man gegen die Lüge und das Rauben insgesamt – von Bäumen aus und aus dunklen Winkeln gleichermaßen – etwas hätte unternehmen müssen und nicht gegen die Bäume selbst. Und dass er nahe dem Tode ist und erst im Tode, erst dann, wird er einer von ihnen sein. Und all das erzählt der Starke dem Geschundenen, dem in der dunklen Gosse Kreuchenden nicht. Dem, der seine schmutzige Hand ihm aus seinen dreckigen Lumpen heraus verzweifelt fragend entgegenstreckt. Er erzählt ihm stattdessen die Lüge vom guten, natürlichen Rauben und von den bösen Bäumen. Und drückt ihm zum Abschied noch freundlich und bestimmt einen kantigen schwarzen Stein in die Hand. „Gott zum Gruße! Das ist das Leben!“ Sprachs und und zieht sich verbindlich lächelnd – ohne einen einzigen Atemzug – zurück in seinen Palast aus totem Gold und Knochen…

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Eines Tages dann macht die Kunde die Runde. Die Kunde der wenigen, die in ihren Innenhöfen heimlich und versteckt sich immer Bäume zogen. Die Kunde derjenigen, deretwegen überhaupt noch Leben existiert, die allein den Sauerstoff erzeugt hatten, der überhaupt noch in dieser ewigen dunklen Nacht der Menschheit zum Atmen vorhanden war. Die Kunde, dass man Geraubtes nicht atmen kann. Dass Rauben nicht ‚das Leben‘ ist. Dass es die Bäume sind, die der Mensch braucht, um stark und kraftvoll zu sein. Um wieder lieben zu können und nicht mehr nur um seines nackten Dahinsterbens Willen hassen zu müssen.

Und es werden Samen verteilt und einzelne beginnen wieder Bäume zu pflanzen. Vielleicht nur, weil sie, um Gottes Willen, nichts anderes mehr wissen und es deshalb, erst ganz scheu und verschämt, einfach tun. Und mit jedem Baum wird für ALLE das Atmen leichter. Mit jedem Baum verringert sich bei ALLEN die Todesangst. Mit jedem Baum verlieren die Toten, die das Atmen nicht zum Leben brauchen, ihre Macht…

Und der Mensch erkennt, nun wieder den Stoff zum Leben habend, Frieden habend, was ‚das Leben‘ ist. Und er atmet tief durch, heimgekehrt und behütet im immergrünen Hain seiner Beseeltheit. Und er ist zurückgekehrt aus dem Alptraum, in den er und so viele andere geworfen worden sind. Er blinzelt zur wärmenden Sonne, die lächelnd scheint durch das grüne, leise rauschende Blätterdach. Und er ruht.

Eines Tages wird diese Kunde erschallen. Das weiß ich ganz, ganz sicher…. In jedem Einzelnen zuerst und dann in der ganzen Welt…

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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