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Der Kräuterhof – Loslassen, wenn es an der Zeit ist

Vor vielen Jahren besuchten meine Frau und ich einmal einen Kräuterhof in den französischen Alpen. Wir wurden gebeten, eine Gruppe von Pflanzenkundlern dorthin zu begleiten und hatten freudig zu gesagt. Jaques, ein kleiner stämmiger, grauhaariger, barfüßiger Mann und Besitzer des Hofs, führte uns herum. Schnell stellte sich für mich heraus, dass es sich bei diesem Hof mit seinen ausufernden gartenartigen Feldern an einem Hang der Voralpen nur in zweiter Linie um einen Wirtschaftsbetrieb mit angeschlossenem Café und kleinem Buchladen handelte. In erster Linie war dieser Hof ein Ort, an dem Kontakt zur beseelten Natur und ihren Kräften gehalten wurde. Ein Ort, an dem in Frieden die körperliche und seelische Existenz in Einklang sein durfte. Ich spürte eine tiefe Seelenverwandschaft mit diesem Mann und seiner Wahrnehmung der Welt. Wir trafen uns zu einer abendlichen Vollmondmeditation und er, eine Bäuerin mit ihrer Tochter und ich beteten für das Heil der Welt und besangen tönend seinen großen Garten. Es war wunderschön. Am nächsten Tag verabschiedeten wir uns und hielten fest, dass es eine gute Begegnung zwischen uns beiden gewesen war.

Dieser Besuch war der Beginn von etwas. Schon die Rückreise war bemerkenswert. Unser Wagen gab den Geist auf und wir wurden auf unserer „Irrfahrt“ nach Hause über Tage mal hierhin und mal dorthin getrieben. Zu Orten und Geschehnissen mit großer und kraftvoller Bedeutung. In den nächsten Monaten träumte ich immer wieder einmal von Jaques. Ich träumte von einer Missernte und ich träumte von seinen Söhnen, die den Hof ganz anders und modern aufgezogen hätten. Mir war klar, dass ich irgend wann einmal an diesen Ort zurückkehren müsse. Nach sechs Jahren hörte ich von Bekannten, dass es um den Hof wirtschaftlich nicht gut stehe und dass die Söhne noch nicht bereit seien, ihn zu übernehmen. Ich dachte an meine Träume und als meine Frau mir sagte, dass sie im Laufe des Jahres in der Nähe noch etwas beruflich zu tun hätte, war die Entscheidung klar: Wir würden diesen beruflichen Trip für einen Kurzurlaub nutzen und Jaques auf seinem Hof besuchen.

Ich wusste nicht, was ich dort eigentlich sollte. Er würde sich ja nicht einmal mehr an mich erinnern. Ich wollte ihn aber ansprechen. Ich hatte das Gefühl, dass es irgendetwas gebe, was dadurch ins Rollen käme. So fuhren wir denn los. Es war ein warmer Herbsttag, als wir an einem Samstag an seinem Hof ankamen. Die Café-Terrasse war voll besetzt. Ich ging – wie viele andere Besucher – durch die Anlage, dieser Mischung aus Feldern und Garten. Die Zeit der Ernte war vorbei. Die Erde lag brach. Trocken. Pflanzenreste. Braun in Braun. Trostlos. Der Herbst, die Zeit der Ernte und des darauffolgenden Sterbens. Ich sah vereinzelte Schilder: „Den Kreis nicht betreten!“, „Kein Durchgang!“. Sie waren mir seinerzeit nicht aufgefallen. Ich war überrascht. Unten am Hang war eine erhebliche Fläche von einer großen Mähmaschine abgemäht worden. Ein junger Mann und eine Frau – wahrscheinlich Erntehelfer für Kost und Logis – versuchten träge mit ihren Rechen, diese störrische Mischung aus Gras und Gestrüpp zu Haufen zusammen zu harken. In Anbetracht der Größe der Fläche eine bedrückende Aussicht. Trostlos. Kraftlos. Oben von der Café-Terrasse kam lautes Reden und Lachen. Es durchbrach die trostlose Stille, machte sie aber nicht besser. Es war kein Reden und Lachen, das in irgendeiner Form heilsam gewesen wäre. Ich stand in der Stille und wurde sehr nachdenklich. So hatte ich mir meine Wiederkehr die Jahre über nicht vorgestellt. In meiner Erinnerung hatte ich einen Ort voller Offenheit und Kraft. Dies war das Gegenteil davon. Ich fühlte keine Kraft mehr. Und auch keine Offenheit. Ich scheute davor zurück, über die abgemähte Fläche an den beiden Arbeitern vorbei zu gehen. So sehr hatte ich das Gefühl, dass sie mich dafür schelten würden.

Ich fand es bemerkenswert, dass wir genau zur Jahreszeit nach der Ernte der Früchte und vor dem Tod der Natur unseren Weg hierhin gefunden hatten. Genau die Zeit des Sterbens. Nichts geschieht ohne Grund. Hatte auch dieser Ort alle seine Früchte gegeben und wollte nun gehen? Gehen, um irgendwann wieder neu zu erstehen? Ich kam an den Platz, an dem wir Jahre zuvor die Vollmondmeditation vollzogen hatten. Auf der hölzernen Plattform, auf der wir vier damals gesessen hatten, stand nun Ganesha, der elefantenköpfige indische Gott des Wohlstandes, zwischen seinen Eltern Shiva und Parvati. Die hölzerne Treppe zur Plattform war zerstört und der Blick der Götterfamilie richtete sich auf einen gemeinsamen Punkt vor der Plattform: Einen gepflanzten und fast bis zur Unkenntlichkeit zugewucherten Kreis, in dem sich viele verschiedene Pflanzen fanden. Viele von ihnen giftig und – so heißt es – magisch. Ein Ritualort. Ein Ort, an dem mit einer Zeremonie um wirtschaftlichen Erfolg gebeten wurde. Oder wo versucht wurde, ihn zu erzwingen… Einen Sterbenden wieder ins Leben zu zwingen… Eine Frau steht neben mir und betrachtet mit einem angerührten und seeligen Zug um den Mund den elefantenköpfigen Ganesha. Ihr entgeht der eigentliche Zweck der Installation. Es ist nicht nur hübsche Dekoration. Die Trostlosigkeit greift auf mich über. Nichts ist mehr da von der leichten Kraft dieses Ortes. Er stirbt. Und man will es nicht zulassen. In der Wirtschaftssprache heißt das, man versuche ein totes Pferd zu reiten. Selbst im kapitalistischen System, wo man sonst alles bis zum letzten ausquetscht, wird einem davon abgeraten.Tote Pferde sind tot. Und sie bleiben es auch.

Ich steige langsam den Hang wieder hinauf zum Hofgebäude und kann im Näherkommen die Gesichter und das Geplapper der wohlhabenden, stilsicher gekleideten Alt-Hippies auf der Terrasse wahrnehmen. Auch das: so trostlos an diesem so heiligen Ort, der nur noch eine Kulisse zum gepflegten „Sun-Downing“ bei Chai und Kuchen ist. Die Bühne für Selbstdarstellung in esoterischem Kräuterambiente. Meine Frau kommt aus dem Café mit ein paar Päckchen Kräutertee. Sie lächelt etwas mitleidig und sagt, dass Jaques bei ihr kassiert habe und in einer grauenvollen Stimmung sei. Natürlich habe er sie nicht mehr erkannt und sie habe es dabei belassen. Ob ich ihn noch ansprechen wolle. Ich verneine. „Lass uns in die Ferienwohnung fahren. Vielleicht fahre ich morgen noch einmal hier hin. Ich kann es Dir jetzt gerade nicht sagen.“ entgegne ich.

Auf der Rückfahrt war ich in Gedanken. Was war das? So lange habe ich gewartet, um nun diesem Anblick und diesem Gefühl gegenüber zu stehen? – Ja. Genau deswegen, sagte etwas in mir. Ich erkannte: Der Gedanke, dass ich Jaques ansprechen müsse, damit etwas geschehe, war eine Vorwegnahme durch meinen Verstand. Eine Prognose. Bedeutungslos. Ich sollte alles genau so sehen, wie ich es gesehen habe. Ich sollte erkennen, dass alles, sei es auch noch so groß und wunderbar und mag es uns auch noch so erhaltenswert erscheinen, irgendwann an sein natürliches Ende kommt. Ich sollte sehen, was geschieht, wenn man nicht bereit ist, dieses Große und Wunderbare und Erhaltenswerte los zu lassen. Gehen zu lassen. Ich sollte sie sehen, die Enge, den Zorn, die Kraftlosigkeit und die Trostlosigkeit in die es führt, wenn man gegen die natürliche Ordnung festhalten will. Was geschieht, wenn man nicht bereit ist, den Rhythmus anzunehmen. Ich sollte genau dies lernen.

Ich weiß, dass ich irgendwann einmal mit meinem Leben an einen solchen Punkt gelangen werde. Und ich bitte darum, dass ich mich der Lehren, die ich an diesem Herbsttag erhalten habe,dann erinnern werde.

*Heute, da ich dies alles im August 2023 veröffentliche, bin ich an diesem Punkt, der mir vor so vielen Jahren bereits vorgezeigt worden ist, angekommen. Ich habe alles, alles hinter mir gelassen. Angstfrei und im Wissen des Sinns… Ich bin dankbar, dass mir damals jene Erkenntnis zu Teil werden durfte.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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