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Der junge Werther kam zu mir

Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang Goethe. Das Buch wurde mir angekündigt und in einem öffentlichen Bücherschrank einer niederrheinischen Kleinstadt stand es dann ein paar Tage später auch genau vor mir. In Augenhöhe. Unübersehbar. Ich hatte es noch nie gelesen, aber es begegnete mir immer wieder in letzter Zeit und der Wunsch, es zu lesen, nahm immer mehr zu. Also nahm ich es mit. Es war kostenlos.

Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der in der Lage war, das göttliche Wesen, den Sinn in der Welt direkt aus sich selbst heraus zu erfahren. Er sah ihn in der Natur und ihren Schauspielen. Er sah ihn in der Dichtung. In der Kunst, die versucht, die göttliche Inspiration in Worte zu transformieren und deren Glanz und Liebe und Geborgenheit erfahrbar zu machen. Er sah ihn in den Augen der Kinder. Nur in den Weltmenschen und ihren Geschäften und Begierden und Trieben und Eitelkeiten, da sah er das Göttliche nicht. Da empfand er nur Schmerz und Ratlosigkeit bzgl. seiner eigenen Position in dieser Gesellschaft. Da er aus reichem Hause war, musste er sich nicht um seinen Unterhalt sorgen. Wenn er von seiner Familie zur Arbeit gedrängt wurde, dann nur um einer Karriere am Hofe willen. Dass er Geheimrat werde und vielleicht noch mehr. Und er verliebte sich. Es war eine Seelenverwandte, die er traf. Sie war wie die Natur, in der er so sehr das Göttliche schaute. Sie war nährend und behütend. Sie war gut und empfindsam. Sie war ohne Vorurteil und Arg. Sie war annehmend und doch immer klar. Sie war weise und wissend und stark. Aber sie war auch verlobt. Sie war der Grund, warum er den Ort (Wahlheim. Die Wahlheimat) verließ und die oben erwähnte Anstellung in der fernen Hauptstadt annahm. Dort ging es nicht gut. Die Weltmenschen quälten sein Empfinden. Sein Sehnsuchtsmensch, die verkörperte göttliche Kraft der Natur, war ferne und unerreichbar. So ging er aus und ging und ging und fuhr und fuhr und kam immer als derselbe wieder zurück. Nichts geschah. Nichts entwickelte sich mehr in ihm. So meinte er. Die Wahrnehmung Gottes und seiner Liebe, die so köstlich war, wenn sie dann da war, reichte nicht mehr. Er spürte eher, wenn sie wieder ging, als ihren Segen, wenn er sie erschaute. Er musste zurück zu ihr, zu seiner Liebe, denn nur dort schien es für ihn Heilung zu geben. Nur dort meinte er sein zu können, wie er war. In tiefster Verbindung mit der göttlichen Kraft. Ganz. Das Drama nahm seinen Lauf und er verrannte und verstrickte sich in all die Unmöglichkeiten dieser Situation. Und er schoss sich letztendlich ein Loch in den Kopf.

Es war die Einsamkeit, die ihn zu dieser Handlung und auch allen anderen Handlungen bzgl. Charlottens trieb. Der Trennungsschmerz. Das Ego. Nichts hatte das mit Seelenverwandtschaft, Ganzheit oder göttlicher Kraft zu tun.

Werther war – zu Beginn, bevor er Charlotte kennengernt hatte – in der Lage gewesen, alles Göttliche in seiner empfindsamen und so offenen Sicht zu erfahren. Einfach nur durch seinen Seelensinn. Er hätte sorglos durch die Welt gehen können und sich an diesem Wissen laben und Jahr für Jahr, Tag für Tag, darin wachsen können. Für seinen Unterhalt hätte er sich nicht in das irdische Gesellschaftsspiel begeben müssen, denn finanziell war er versorgt und somit frei. Er hätte seinem Weg, der so ziellos erschien, folgen können. Vielleicht hätte er auch erkannt, wie geführt dieser Weg eigentlich ist und er wäre gegangen und gegangen und hätte nicht gedacht, dass es sinnloses Tun sei und dass es ihn unverändert wieder zurückkehren lasse. Er hätte auch „Gutes tun“ können, so wie er es auch so schon tat, indem er die Armen unterstützte und ein offenes Ohr für die Leidenden hatte. Er hätte an der wahren Quelle bleiben können. Aber das Schicksal wollte, dass er stattdessen Charlotte kennenlernt und all seine Wünsche nach Einheit, Geborgenheit, Aufgehobenheit und Sinn – seinen Schmerz – auf sie legt. Und es wollte, dass er das, was die göttliche Natur ihm nur dosiert und immer mal wieder gab (und ihn stattdessen auch einmal „gottverlassen“ und ratlos sein ließ), nun dauerhaft und ein Leben lang von Charlottens Gegenwart erwartete: Die Segnung durch die Natur im Sinn.

Aber: Charlotte war nicht die Natur. Sie war ein Mensch und sie war endlich und erschöpflich und gebunden im gesellschaftlichen System.

Das Kennenlernen Charlottes brachte Werther sofort in sein Ego. War er vorher zeitweilig glücklich im Sinn und auch manchmal unglücklich und ratlos im Ego und pendelte auf diese Art durch sein Leben, so übernahm nun nahezu umgehend – über Auge und Ohr – der materielle Verstand sein Bewusstsein und definierte ein Ziel: Die Vereinnahmung Charlottens als passendes Werkzeug zur Erlangung von Ganzheit und dadurch Schmerzfreiheit. Ein materielles Ziel, das ihm all seine Schmerzen und all seine Angst dauerhaft nehmen sollte. Die wirklichen Gotteserfahrungen und die wirklichen Erkenntnisse des Sinns, die Werthers Bewusstsein ja auch hatte, traten nun marginalisiert in den Hintergrund und sein Bewusstsein stützte sich ab diesem Zeitpunkt auf Vergänglichkeit und nicht mehr auf Ewigkeit. Auf das scheinbar von ihm Getrennte und nicht mehr auf das Wissen, dass alles immer eins ist. Danach begann eigentlich Werthers wirkliche Einsamkeit. Sein Stolpern durch die Welt in Ratlosigkeit, Desorientierung und Verzweiflung.

Dadurch, dass Werthers Bewusstsein eine Begierde nach Erlösung von scheinbarer Un-Ganzheit entwickelt hatte, mündete sein Leben in diese letzte verzweifelte Tat. Einer Tat, die nur darin begründet lag, dass sein Bewusstsein im Ego alle Wahrnehmung auf Charlotte – die scheinbar so unüberwindbar weit von ihm entfernte Charlotte – fixierte und die seelischen ewigen Wahrheiten der Einheit vergaß. Dabei wurde er aus tiefer Seele geliebt. Von Charlotte, selbst von ihrem Mann, ihrem Vater, ihren Geschwistern, seinen Eltern; der Erbprinz, der Minister, der Graf, die Armen schätzten ihn und das nicht für seine gesellschaftlichen Verdienste, sondern für sein inneres Wesen. Er hätte sein können. Er hätte wirken können, wenn ihn nicht das Auge und der Verstand von seinem klaren Weg (der dem Ego so unklar vorkommt) abgebracht und in die trügerische Wahrnehmung des abgrundtiefen Schmerzes der Einsamkeit geschickt hätten. Nur Hingabe an den Weg und die Rückkehr zum Wissen hätten ihn „retten“ können. Wenn ihm diese Zusammenhänge klar gewesen wären. Nun, wenn es das Schicksal so gewollt hätte, sage ich wohl besser.

…Ich habe dieses Buch nicht von ungefähr gefunden. Auch ich reise und reise nun und manchmal stellt sich – kurz aufflackernd – die Frage nach dem Sinn. Ich gehe und gehe und komme doch unverändert wieder zurück? Warum das? Ist es so? Ist das überhaupt so?

Der Werther hat mir gesagt: Es gibt die Hingabe oder es gibt nichts. Es gibt den Weg oder es gibt den Tod. Habe ich Angst und fehlt mir die Zuversicht, brauche ich etwas oder jemanden außerhalb von mir, dann bin ich ab vom Weg… und habe die Pistole eigentlich schon in der Hand. Vielleicht sogar schon an der Schläfe. Denn der ganze Ansatz ist bereits zum Scheitern im Chaos verurteilt.

Ich war überrascht, welche Worte Goethe seinen Werther gerade am Anfang des Romans sprechen ließ. Sie finden sich auch hier in diesem Buch. „Da wird sicher jemand denken, ich hätte abgeschrieben.“ dachte ich schmunzelnd. Ich finde meine eigene Wahrnehmung im „frühen“ Werther wieder. Der Rest des Romans ist mir ein mal mehr Mahnung, genau zu schauen, was mein Ego mir als Heilsversprechen unterschieben will. Genau zu schauen, ob es der Welt nutzt oder ob es nur dem Ego und damit gar nichts nutzt… Der Werther hat nicht geschaut. Er hat es nicht bemerkt, als das Ego übernommen hatte, hat dessen Spiel für bare Münze genommen und ist ihm blind in die letzte Verwirrung gefolgt.

Das Buch hat autobiografische Anteile. Goethe verarbeitet dort auch eine Episode seines eigenen Lebens. Er entwickelt da das schöne Bild eines Brunnens. Anfangs – vor Charlotte – ist der dunkle, behütende und feuchte Ort für Werther ganz klar und rein. Nur Reines und Wahres geschieht dort. Selbstloses. Ohne Kalkül. Später im Roman weint dort ein Kind, weil er es geküsst hat. Es kann fast nicht mehr aufhören, sich die Wange zu waschen, in dieser klaren und reinen Quelle des Brunnens. Es hat Angst, dass ihm ein Bart wachse. Dass etwas von Werther auf es abfärbe. Werther bzw. sein Bewusstsein ist nicht mehr dasselbe wie bei seinem ersten Besuch am Brunnen. War es anfangs rein und klar, so ist es mittlerweile beschmutzt. In das Ego verschoben. Selbstisch. Der Kuss war nicht mehr aus Werthers seelischer Quelle gespeist. Die Kinder spüren das. Das wusste auch Goethe. Nur sein Werther, der hatte das Wissen der Kinder auf seinem Weg im Ego vergessen, bis zu seinem Ende…. Er blieb verstrickt, denn er stützte sich auf Schein und Vergänglichkeit. So konnte er nicht zur Wahrheit zurückkehren. Sein Begehren war das des Schmerzes. Deshalb konnte er Charlotte im Äußeren nicht loslassen und sah ohne ihren Besitz nur noch seinen eigenen Tod als Ausweg. Wäre sein „Begehren“ ein inneres, ein wirklich seelisches gewesen, er hätte keinen Mangel gespürt und sie freigegeben in dem Wissen um ihre ewige seelische Verbindung. In wahrer Liebe. In solch einer kraftvollen Verbindung hätte er voller göttlicher Inspiration einen wahren Weg gehen können.

Nun mahnt mich Goethe, oder besser: das Schicksal durch Goethe, den wahren Weg zu gehen und nicht das Heil in äußerer Verbindung zu suchen. Es mahnt mich, die prinzipielle innere Vollständigkeit anzuerkennen und so dem Gefühl eines Mangels jeden Boden zu entziehen. Dem Ego jede Möglichkeit eines Dramas zu entziehen. Ich soll den Wertherschen Weg gehen, den er beschritt, bevor Charlotte in sein Leben trat. Jetzt bin ich nicht so reich, wie der Werther oder sein Vorbild Goethe es waren. Aber durch den Hausverkauf bin ich für eine gewisse Zeit finanziell unabhängig. Das Schicksal, das Buch, der Werther, Goethe sagen mir: Gehe den Weg im Sinn. Gehe und gehe und gehe und füge zu Deinem Sein Mosaikstückchen um Mosaikstückchen hinzu, auf dass jeder Schritt Deiner Vervollkommnung und der Vervollkommnung der Welt in gleichem Maße nutze. Geh ohne Angst. Geh ohne den Gedanken an Mangel in welchem Aspekt auch immer. Sei geführt. Jetzt, wo niemand da zu sein scheint, mit dem Du auch nur ein einziges Wort des Verstehens wechseln könntest.

Ich danke der Führung, dass sie mir immer wieder aufhilft und mich nie zurücklässt. Danke!

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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