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Das M-Wort

Als ich das erste Mal in meinem Leben gebeten wurde, ein Wochenendseminar zum Thema schamanische Heiltechniken zu halten, hatte ich ungefähr ein halbes Jahr Zeit zur Vorbereitung.

Jeden Tag stürzten damals neue Erkenntnisse auf mich ein. Neues, das ich den Teilnehmern mitteilen musste. Die Menge dessen, was gesagt werden musste, wuchs und wuchs stetig an, wurde zu einem Konzentrat dessen, was meine Weltanschauung und mein Inneres Erleben ausmachte.

Ich war in diesen Monaten in einer Dauertrance. Das Thema ‚Schamanismus‘ war zwar der Aufhänger, aber das, was ich mitteilen musste, betraf essentielle Erkenntnisse. Am liebsten hätte ich hingehen und den Teilnehmern einfach ins Gesicht brüllen wollen: „Es ist alles wahr!!! Wir sind gerettet!!! Wir sind beseelt!!! Alles andere ist nicht wichtig!!!“ So ungefähr waren meine Gefühle, als der Seminartermin gekommen war.

Und ich redete und redete mit dem Feuer und der Flamme des göttlich inspirierten naiven Missionars. Mit Ausdrücken soweit jenseits des esoterischen Standardvokabulars, dass einige Teilnehmer blass wurden. Und… ich benutzte das M-Wort. Das verpönte M-Wort, dass man nie niemals in spirituellem Standard-Rahmen sagen darf. Mir war dieses Wort damals als unesoterischem Neuling nicht als ein solches Sakrileg bewusst. Viel später erfuhr ich dann, dass es bereits aus der Psychotherapie verbannt worden war. Daher wehte der Wind.

So benutzte ich nun dieses Wort – ganz im Banne meiner Predigten – bis eine Frau aus dem Kreis aufsprang – kreidebleich und gleichzeitig puterrot – und rief: „Wenn Du noch ein einziges Mal MÜSSEN sagst, dann beende ich das hier und fahre sofort nach hause! Ich habe oft genug gemusst! Ich muss nicht auch noch hier müssen! Das kann ich mir nicht mehr anhören!“ Verstört und aus dem Konzept gebracht, ob dieses völlig unerwarteten Einwurfes rief ich sie flehendlich an, die Hände ihr entgegen streckend: „Mechthild! Natürlich musst Du nicht! ICH muss! Das ist es, was ich sagen will!“ Das war das, was mir spontan aus der Seele quoll. Ich teile doch nur mit, was mir ein Muss ist!

Ich musste in den folgenden Jahren immer wieder über diesen Vorfall nachdenken. Besonders über meine so spontane und leidenschaftliche Erwiderung. Es war schon so, dass es mein Muss war, das ich mit den Teilnehmern teilte. Aber es war auch eine Einladung, an meinem Muss teilzuhaben. Es anzunehmen und zu erkennen, dass es in diesen Dingen keine Alternative gibt.

Für mich war Müssen nie etwas Außergewöhnliches. Das Leben ist voller Müssen. Gerade die Basis: Leben. Sterben. Töten. All das müssen wir. Und nur, weil wir unser weinerliches und überempfindliches Ego streicheln wollen – ja uns quasi von seiner Weinerlichkeit erpressen lassen – dürfen wir nur noch dürfen. Deshalb müssen (!?) wir die Wahrheit verleugnen. Die Wahrheit, dass wir von so vielem abhängig sind. Von so vielem, was wir müssen. In der Psychotherapie mag es ja noch hingehen. Sie beschäftigt sich mit unserem überempfindlichen Erpresser – Sie muss (-!- unser Ego zwingt uns auch ein ganz schönes Muss auf.) es in diesem Falle vielleicht streicheln und tätscheln mit „Du darfst und kannst, wenn Du denn möchtest oder willst“. Aber auf der Ebene der Seele gibt es letzten Endes keine Alternativen. Vielleicht – aber auch nur vielleicht – darf man sich den äußeren Weg aussuchen, auf dem man sich der Quelle nähert. Aber was Dir dort an Wahrheiten geboten wird, ist weder verhandelbar noch Geschmackssache. Vielleicht darf man diese Wahrheiten noch ignorieren. Aber ich glaube, selbst das ist dann nicht mehr erlaubt, wenn man sie einmal erkannt hat.

Heute würde ich meine Antwort an Mechthild so oder so ähnlich ergänzen. Vielleicht würde ich noch sagen: „Atmen musst Du doch auch. Worüber ich spreche, ist für mich Atmen. Es geht nicht um den negativen Zwang von Außen auf das Ego. Es geht um das Behütetsein der Seele in der Einheit. Eins ist Eins. Da gibt es keine Alternativen.“

Mechthild hatte nur das Wort gehört und es mit der Schublade für irdischen Zwang abgeglichen. Ich sagte „Man muss…, ich muss…, Ihr müsst…“ und meinte: „Das sind die unverrückbaren Grundpfeiler, an denen wir uns anlehnen können. Kein Zwang. Eine Konstante.“

Ich benutze das Wort aber jetzt auch nicht mehr. Ich mache jetzt mehr Worte und umschreibe es. Aber eigentlich meine ich immer noch: „Ihr müsst!“ Zu „Ihr dürft.“ konnte ich mich allerdings noch nicht entschließen. Ich hoffe, dass es so bleibt. Man kann es nie wissen…

Wir müssen immer davon ausgehen, dass das Wort für unser Gegenüber eine andere Bedeutung hat, als wir ihm in unserer Aussage geben wollen. Häufig wird nur noch das Wort genommen. Isoliert. Und es wird außer Acht gelassen, wer es gesagt hat und in welchem Zusammenhang es eigentlich steht. Reizworte. Man ist dann ganz überrascht, wie man so missverstanden werden konnte.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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