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Chris – Eine Geschichte in fünf Kapiteln

Chris

1.

Chris hatte vollgetankt. Nun saß er wieder in seinem Auto und fröstelte. Es war einer dieser windigen und nassen Frühlingsmorgende, die den Menschen mehr zurück an die starre Kälte des Winters als an das bevorstehende Wiedererwachen der Natur denken lassen. Der Himmel war klar im Licht der Sterne und am Horizont zeichnete sich der fahle Schein der Morgendämmerung ab. Chris musste früh los. Er hatte noch einen weiten Weg vor sich. Vorsichtig stellte er den Kaffee, den er im Tankstellenshop erstanden hatte, in den Getränkehalter neben dem Lenkrad und versuchte mühsam und fahrig im Navigationssystem seines Fahrzeugs sein Ziel einzustellen. Chris hatte schlecht geschlafen und war noch nicht ganz wach. Es ging ihm nicht gut. Das Radio dröhnte den Wetterbericht und trug damit noch zu seinen stechenden Kopfschmerzen bei. Er meinte sich erinnern zu können, dass das Radio beim Verlassen des Wagens auf eine moderate Lautstärke eingestellt war. Anscheinend hatte es zwischenzeitlich selbstständig entschieden, dass der Wetterbericht keinesfalls überhört werden durfte. Chris warf gequält vom Navigationsbildschirm einen kurzen Blick auf die unüberschaubare Anzahl an Knöpfen, die das Armaturenbrett und das Lenkrad mit rätselhaften Funktionen pflasterten – und gab erst einmal auf. So leicht ließ sich das Radio jetzt nicht abstellen. Er hatte den Wagen erst ein paar Tage und war mit dessen Technik noch nicht vertraut. Ihm schien es, dass es mit jedem neuen Fahrzeug länger dauerte, bis er die neuen Features und Bedienelemente begriffen hatte. ‚Erst das Navi.‘ sagte er sich entschieden und versuchte, seine ganze Konzentration gegen den dröhnenden Wetteransager zusammen zu nehmen.

In diesem Moment klopfte es an der Beifahrertür. Chris fuhr, aus seiner mühsam gesammelten Konzentration gerissen, erschrocken auf und schaute durch die Seitenscheibe. Dort stand ein Mann und lächelte ihn mit gebeugtem Oberkörper durch die Scheibe freundlich an. Chris‘ Schreck wurde zu Unwillen, denn allem Anschein nach wollte dieser Mann gerade jetzt mit ihm sprechen. Sein Mund wurde zu einem Strich, während er den fremden Mann anblickte, damit dieser auf keinen Fall übersehen konnte, wie unpassend sein Auftauchen in diesem Moment war und wie viele Umstände er Chris damit bereitete. Vielleicht hatte der Mann ja auch schon etwas gesagt, aber durch die gebrüllten Aussichten für die nächsten Tage hätten seine Worte sowieso nicht zu Chris durchdringen können. Chris war entnervt. Nun musste er doch seinen Plan ändern und sich vordringlich um Lärmbekämpfung kümmern. Er hob beide Hände mit den Handflächen zum Fremden und signalisierte, er solle sich einen Moment gedulden. Der Mann wirkte gelassen und verständnisvoll. Chris drückte auf Knöpfen mit unerklärlichen Symbolen und Abkürzungen herum, drehte an Wahlknöpfen und irgendwann erschien in irgendeinem Display das Wort „Radio“. Eisern entschlossen drückte er nun einen Knopf mit einem Symbol und einer Option, die ihm im Nebel seiner zunehmenden Kopfschmerzen passend erschien und – das Radio war aus! Stille! Einen kurzen Moment war Chris selbst fassungslos. Dann stellte sich, untermalt von einem leisen Pfeifen in den Ohren, stiller Triumph ein. ‚Na also!‘ Der Triumph dauerte keine Sekunde. Er wurde gefolgt von der ängstlichen Frage: ‚Was passiert jetzt beim nächsten Wetterbericht? – Ich muss mich dringend damit beschäftigen und das richtig einstellen!‘ Der Mann! Den elektrischen Fensterheber fand Chris schneller. Kühle, frische und stille Morgenluft strömte durch das geöffnete Seitenfenster in den Innenraum des Wagens. Sofort ging es Chris ein wenig besser. „Ja, bitte?“ fragte er fast freundlich.

2.

Der Mann schaute Chris mit freundlicher Ruhe an und im Blick seiner fahlblauen Augen, in denen sich das Licht der Morgendämmerung spiegelte, lag volles Verständnis für Chris‘ derzeitige Verfassung und freundliches Mitgefühl für dessen frühmorgendlichen Kampf gegen die Maschine.

„Können Sie mich ein Stück mitnehmen?“ fragte er freundlich. Chris‘ angedeutetes Lächeln sackte zusammen. Er hatte es doch gewusst. Ein Anhalter! Chris nahm nie jemanden mit. Aus Prinzip nicht. Die Unwägbarkeiten waren ihm zu groß. Wenn es zwischen ihm und dem Anhalter nicht passte, dann bestand vielleicht stundenlang ein angespanntes Schweigen während beide wortlos in die Landschaft starrten. Oder der Mitfahrer war ein Schwätzer, der sich ohne Unterlass selber reden hören konnte. Oder er war krankhaft neugierig und fragte Chris die ganze Fahrt Löcher in den Bauch. Von anderen Szenarien ganz zu schweigen. Er fühlte sich in diesen Momenten immer als ein Opfer und versuchte, solche Situationen möglichst zu vermeiden. So war ein Teil von Chris wütend und enttäuscht, weil der Fremde ihn mit einer so unnützen Frage von seinen eigentlichen Plänen abgehalten hatte. In einem anderen Teil von ihm ging aber, allen Vorurteilen zum Trotz, etwas eine Verbindung mit diesem Mann ein. Es war vielleicht dessen Stimme. Der Fremde hatte eine Stimme so warm wie der Sommer und so weit wie das Land. Sie war wie ein milder Wind, der über die Ebenen streicht. Gleichmäßig, weit und ohne Widerstand und Turbulenzen. „Wo wollen Sie denn hin?“ hörte Chris sich aus weiter Ferne knurrig fragen. „Nach Osten.“ sagte der Fremde. „Nach ‚Osten‘? Na, nach ‚Osten‘ fahre ich wohl irgendwie. Sie haben Glück. Okay, steigen Sie ein. Ihre Tasche können Sie hinten rein legen.“ Chris traute seinen eigenen Ohren nicht. Vielleicht war es die Sehnsucht nach dem Sommer und der wärmenden Kraft der Sonne, nach der weiten Ebene in welcher der Wind breit und ohne Hindernisse träumend streifen konnte, die Chris zu dieser für ihn selbst überraschenden Entscheidung trieb. Aber selbst wenn es so war: Chris war sich seiner Beweggründe nicht bewusst. „Danke.“ sagte der Fremde und lächelte während sich sein von der Sonne dunkles, ovales Gesicht in unzählige Lach- und Blinzelfalten legte. Er stellte seine Tasche auf den Rücksitz und stieg ein. Etwas in Chris fühlte sich auf einmal wieder betrogen. Er fühlte sich manipuliert und tückisch berechnend von einer süßen Stimme gegen seinen Willen zu Taten gezwungen, die nicht ihm, sondern nur dem anderen zum Vorteil gereichten. Der Fremde schnallte sich an, rückte sich auf dem Sitz zurecht und zog seine leichte Jacke gerade. „Der Sonne entgegen!“ sagte er verschmitzt und fröhlich entschlossen mit offenem Blick zu Chris, wie als wenn er nun ein großes Abenteuer erwartete. Chris hörte die Worte durch den Nebel seiner Unsicherheit, schaute kurz überrascht den Fremden an und blickte dann nach vorne in das Licht der aufgehenden Sonne. Chris spürte ein unbestimmtes Gefühl in seiner Magengegend und entschied, dass es gut sei. Er lächelte überrascht und erfreut und schaute nach rechts zu seinem Beifahrer. „Ja. Stimmt. Der Sonne entgegen!“ Und sein pochender Kopfschmerz begann sich langsam zu legen.

3.

Chris hatte das Radio vorsorglich nicht wieder eingeschaltet und die Fahrt verlief eine Zeitlang in Schweigen. Beide Männer schienen ihren Gedanken nachzugehen. Schauten in die Landschaft, die nach der langen kalten Nacht begierig die ersten wärmenden Strahlen der Sonne auf sog. Es war ein gutes Schweigen und Chris konnte nicht einmal sagen, wieso es gut war. So lange er zurück denken konnte fühlte er immer einen Druck in sich, eine nervöse Unruhe, die nie ganz von ihm wich. Es war ungewöhnlich, dass er diese Stille im engen Raum der Fahrgastzelle ohne jegliche Unruhe ertrug. Er bemerkte es selbst und wunderte sich über das eigenartige Gefühl in seinem Unterleib, das sich eingestellt hatte, seitdem der Fremde am frühen Morgen neben ihm Platz genommen hatte. Chris wusste noch nicht, dass es Frieden war, den er in sich fühlte. Er wusste nur, dass die ruhige Gelassenheit seines Begleiters, das Fehlen jeder Ecken oder Kanten, die Abwesenheit jeder Schärfe oder Anspannung im Gegensatz zu seinem sonst alltäglichen Lebensumfeld stand, in dem es keine Stille und erst recht keine Gelassenheit gab. ‚Urlaub.‘ ging ihm plötzlich durch den Kopf und seine Augenbrauen hoben sich ganz leicht und ganz kurz vor Überraschung, während er auf die Straße blickte und fast hätte er sogar ein wenig gelächelt. So fuhren sie noch eine Weile.

„Kennen Sie sich damit aus?“ unterbrach Chris irgendwann das Schweigen und zeigte auf das Multifunktionsdisplay im Armaturenbrett. Überrascht stellte er dabei fest, dass er ganz vergessen hatte, das Navigationssystem zu programmieren. Es wurde keine Zielführung angezeigt. Sein Begleiter schaute ihn fragend an. „Mir geht es vor allem um das Radio. Ich werd‘ aus dem Ding nicht schlau.“ Der Fremde schaute einige Sekunden sinnend auf die Bedienelemente. „Nein, keine Ahnung.“ sagt er veschmitzt grinsend mit fröhlichen Augen, als hätte man ihm gerade einen kleinen und feinen Witz erzählt. In seinem Blick lag so viel vitale Kraft, dass Chris sich fast wieder unbehaglich fühlte. Aber dieses Erwachen seines Begleiters aus der Ruhe war so weich und fast, ja, umarmend, dass die Unbehaglichkeit keinen Raum hatte und einem anderen Gefühl weichen musste.

„Sie sind nicht so in der Technik. Oder?“ fragte Chris und schaute sich seinen Nebenmann das erste Mal genauer an.

„Tja“, sagte der Fremde nachdenklich, „nicht so richtig, irgendwie.“

„Was sind Sie denn, wenn man fragen darf?“

„Was ich bin…

„Ja, Sie werden doch einen Grund haben, nach Osten zu wollen. Ein Ziel. Haben Sie da einen Job? Was ist Ihr Beruf? Was sind Sie? Nur, wenn Sie drüber reden wollen. Ich bin eigentlich gar nicht so neugierig.“ Chris lächelte etwas verlegen.

„Nein, Nein. Kein Problem. Ich habe diese Frage schon viele Male gehört, nur habe ich trotzdem jedes Mal Schwierigkeiten sie zu beantworten. Beziehungsweise, sie so zu beantworten, dass der Frager mit meiner Antwort zufrieden ist.“ Der Fremde blickte durch die Windschutzscheibe in die Ferne. „Ich würde sagen: Ich bin einfach.“

Chris zog die Augenbrauen weit nach oben und schürzte ein wenig seine Unterlippe. Er warf eine kurzen skeptischen Blick von der Straße auf seinen Begleiter. „Sie sind einfach? Was heißt das?“

„Sehen Sie? Meine Antwort stellt niemanden zufrieden.“ sagte der Fremde grinsend. „Das ist nicht so einfach. Sie zum Beispiel. Was meinen Sie, was Sie sind?“

„Ich? Ich bin im Vertrieb.“, sagt Chris pfeilschnell, „Ich bin ein Vertriebsmann. Und ich bin Sportler. Basketballer. Und… ich war auch mal Sohn. Aber meine Eltern sind gestorben.“

„Wie sind Sie Vertriebsmann geworden?“

„Ich weiß nicht. Ich habe studiert, als meine Mutter an Krebs gestorben ist. Kurz danach hatte mein Vater einen Schlaganfall. Von da an musste ich mich um ihn kümmern. Er konnte noch ein paar Sachen selbst und war mental noch so fit, dass ich ihn nie in eine Betreuung hätte geben können. Da war das mit dem Studium erledigt. Nach zehn Jahren ist er dann gestorben. Ich hatte zwischendurch eine IT-Weiterbildung vom Arbeitsamt absolviert. Dann musste ich ja irgendwas machen. Ich hab von Computern gar keine Ahnung. Jetzt vertreibe ich Software für eine mittelgroße Firma. Ist schon der sechste Arbeitgeber. Mal sehen, wie lange das hier noch läuft.“

„Und Sie sagen, Sie sind Vertriebsmann?“

„Ich weiß worauf Sie raus wollen. Man soll das machen, woran einem das Herz hängt. Man soll Sinn in seiner Arbeit finden und Glück und nicht nur für Geld irgendetwas machen, was einem gar nicht gut tut. Ich hätte etwas mit Sport machen sollen. Sportjournalist haben meine Freunde immer gesagt, solle ich werden. Da würden meine Interessen und meine Begabung drin liegen. Hat sich aber nie ergeben. Vielleicht kommt es ja noch. Man soll ja niemals nie sagen, oder? Das meinen Sie doch, oder?“

„Wenn Sie jetzt Sportjournalist wären und damit glücklich wären, was würde sein, wenn Sie – aus welchen Gründen auch immer – diesen Beruf nicht mehr ausüben könnten? Und Sie keine Familie und keine Freunde und keinen Sportverein mehr hätten und daran nichts ändern könnten? Was wären Sie dann?“

„Ein einsamer und arbeitsloser Sportjournalist. Nein Spaß bei Seite. Wenn ich nichts mehr hätte und daran nichts mehr ändern könnte, dann wäre ich wohl nichts mehr. Eine sinnlose Existenz. Müsste mich dann mit Taubenfüttern oder Blumenzüchten oder Nachbarn terrorisieren beschäftigt halten. Nein. Ich wäre dann nichts mehr. Dann hätte nichts mehr einen Sinn. Dann könnte ich mir den Strick nehmen. – sind Sie ganz alleine? Meinen Sie mit nur sein alleine sein?“

„Nein, ich bin nicht alleine. Worauf ich hinaus wollte war, dass der Mensch sich in dieser Gesellschaft darüber definiert, was er hat und was er tut. Hat er nichts und ist er daran gehindert, etwas zu tun, dann fehlt ihm das Gefühl für den Sinn. Dann ist er auf einmal nichts mehr. Das kommt dabei heraus, wenn nur die äußeren Faktoren des Lebens beachtet werden. Ich betrachte meine Existenz von einer anderen, einer seelischen Ebene aus. Es spielt aus diesem Blickwinkel heraus keine Rolle, ob ich großartige Taten vollbringe oder nur vor dem Fernseher sitze oder ob ich unzählige Freunde habe oder ob ich Jahre alleine in einem Zimmer verbringe. Das Äußere hat in Beziehung auf mein Sein keine Bedeutung. Betrachte ich meine seelische Existenz, so ist sie geborgen in der Ewigkeit und der Unendlichkeit. Dort ist alles Eins. Deshalb bin ich einfach und dieses Sein ist an keine äußeren Faktoren gebunden.“ San lächelte fröhlich. „Was natürlich nicht heißt, dass ich mich nicht mit den äußeren Faktoren beschäftigen muss. Sie bedingen aber nicht mein Sein.“ ergänzte er noch.

Chris schwieg einige Minuten und schaute auf die Straße. Rechts und links breiteten sich weite brache Felder aus bis sie den Horizont berührten.

„Ich habe ja so schon fast nichts.“ sagte Chris leise. Fast zu sich selbst. Und dann lauter: „Sind Sie in einer Sekte?“

„Nein, keine Sekte.“ sagte sein Begleiter.

4.

Chris schwieg weiter. Er war ‚im Allgemeinen‘ solche Gespräche nicht gewöhnt. ‚Doch so ein Schwätzer. Ich hab es doch gewusst.‘ Chris begann, sich wieder unwohl zu fühlen. Seine Unruhe kehrte zurück. Es lag ihm nicht, über Sachen zu sprechen, zu denen er keinen Beitrag leisten konnte, weil er sie nicht verstand. Sofort machte sich ein Unterlegenheitsgefühl in ihm breit und der Wunsch, wieder alleine in seinem Auto zu sein, begann langsam zu wachsen. Reflexartig ging sein Blick mehrmals schnell zum Multifunktionsdisplay. „Radio?“ fragte Chris mit einer deutlichen Schroffheit im Ton, die verriet, dass er den ungebetenen Gast für sein Unwohlsein persönlich verantwortlich machte. Ein kindischer Vorwurf, der reflexartig seinem Gast Absicht – und damit Schuld – unterstellte. „Wenn Sie möchten, gerne.“ entgegnete der Fremde freundlich. „Gleich kommen die Nachrichten.“ sagte Chris „Oder bekommen Sie Ihre Informationen alle von Ihrer seelischen Ebene?“ Chris klang patzig und in seinen Worten lag eine deutliche Spitze. Der Fremde überhörte die Provokation und sagte halb ernst halb leicht lachend: „Ja so ist es wohl! Aber ich höre auch Nachrichten. Nur ist das Meiste für mich nicht wichtig. Es sind zu viele bedeutungslose Informationen, zu viele Meinungen. Zu viel davon verwirrt die Menschen. Macht ihnen Angst. Es hilft nicht bei der Suche nach der Wahrheit.“ Chris ließ das Radio aus. Er fühlte sich belehrt und aus Unwohlsein wurde langsam Wut. ‚Seele. Wahrheit. Angst. Warum muss er das machen? Warum kann er nicht etwas sagen, wozu ich auch etwas sagen kann? Warum sitzt er so hoch oben auf dem Ross und lässt mich wie ein kleines Kind aussehen? Ich will das nicht mehr! Ich will allein sein. Alleine für mich! Dann macht mir keiner mehr schlechte Gefühle!‘ Chris war niemand, der tief nachdachte. Wenn er an etwas ausgiebiger dachte, dann an eine verklärte Schulzeit. Oder an den Tod seiner Eltern. Beides hatte den Geschmack von Vergangenem. Das eine gut und vorbei. Das andere schlecht und mit Wirkung bis in sein jetziges Leben. Schuld und Schuldzuweisung in Verbindung mit der Trauer um unwiederbringlich Verlorenes wechselten sich ab. Wenn er über heutige Freunde nachdachte, dann war es die Freundschaft, die er fühlte. Nichts Komplizierteres oder Weitreichenderes. Er war ein sanfter und empfindsamer Junge gewesen, der nun versuchte, mit der notwendigen Härte einfach nicht unterzugehen. Er war aber nicht hart und das Simulieren von Härte kostete ihn viel Kraft. All das war ihm nicht bewusst. Er war nur voller Angst. Jetzt wollte er mit seinen einfachen Gedanken wieder alleine sein, aber er war nicht in der Lage, seinen Begleiter einfach raus zu setzen nur weil dieser die rechte Begeisterung für die Nachrichten missen ließ.

Chris schwieg wieder und stierte auf die Straße. Der Fremde aber schien das nicht zu bemerken und verströmte weiterhin Ruhe und Gleichmut. Keine Spitzen, keine Ecken, keine Schärfe war von ihm zu spüren. Er schaute aus dem Fenster und ein Betrachter hätte nicht mit Sicherheit sagen können ob er überhaupt etwas von dem, was draußen an ihm vorbeizog, wahrnahm. Und je länger sie fuhren und je länger Chris in seinen Gedanken von Schuld und Trauer auf die Straße starrte, desto mehr machte sich der Wandel bemerkbar. Chris‘ Wut ebbte langsam ab und die bleiernen Gedanken, die in ihren stählernen Gefängnissen ihre Runden drehten, fanden eine Möglichkeit zur Flucht und machten sich ganz plötzlich aus dem Staub. Das andere Gefühl ergriff wieder Besitz von Chris und plötzlich wollte er nicht mehr alleine sein.

5.

„Ich heiße Chris.“ sagte er unvermittelt und versuchte ein gewinnendes Lächeln, das genug Kraft hatte, die ängstlichen und wütenden Gefühle, die er zwischen ihnen wähnte, außerhalb der Sichtweite zu schaffen.

„Ich heiße San.“ sagte der Fremde und obwohl er die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut hatte und für Außenstehende den Eindruck geistiger Abwesenheit gemacht hätte, war er sofort hellwach und klar als Chris ihn ansprach.

„Das ist eine praktische Sache mit dieser ‚seelischen Ebene‘ von der Du gesprochen hast, San. Egal, was ist, man ist damit nie alleine, nicht wahr? Immer – geborgen war das Wort, nicht wahr? Aber über die Seele, da spricht man nicht so drüber, außer in der Kirche. Ist irgendwie peinlich, das Wort, oder? Das ist ‚Glaubenssache‘, nicht wahr? Ich hab da immer so meine Zweifel, ob es so etwas überhaupt gibt. Eine Seele oder eine ‚seelische Ebene‘ wie Du es nennst. Kann man das lernen? Ich meine, wie macht man das mit seiner ‚seelischen Seite‘ und diesem ‚einfach sein‘? Kannst Du mir das beibringen? Kannst Du mir beibringen, was ich tun muss, um die Welt so zu sehen? Scheint Dir ja gut zu tun.“

„Ich kann es Dir nicht beibringen, Chris. Es ist kein Trick, den man lernen könnte und es gibt keine Gebrauchsanleitung. Es gibt auch nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. Ich kann heute bei Dir sein. Das ist alles, was ich tun kann. Und Du kannst heute bei mir sein. Das ist alles, was Du tun kannst.“

„Das ist alles?“ fragte Chris enttäuscht.

„Ja. Das ist alles.“ sagte San „Und es wird reichen. Es ist sogar mehr, als eigentlich notwendig wäre. Du wirst alles erfahren.“

Chris begriff die Worte Sans nicht und schaute schweigend wieder nach vorne auf die Straße. Dann auf einmal spürte er es. Alles Gewicht und alle Last wich von seinen Schultern. Sein Kopf wurde ganz leicht und dort, wo gerade noch der Jahrzehnte alte Schraubstock saß, strich nun ein sanfter Frühlingswind und liebkoste seine Schläfen. Chris lächelte weit. Ein automatischer Reflex. Eine Reaktion auf die nachlassende Spannung. Eigentlich hätte er lauthals lachen wollen aber dafür war er zu kontrolliert. Eigentlich hätte er Rotz und Wasser heulen wollen, aber auch das konnte er in Gegenwart des Fremden nicht zulassen. Ein Glitzern erschien in seinen Augen und eine einzelne Träne fand ihren Weg aus seinem rechten Auge und rollte langsam Chris‘ Wange hinunter. Chris blinzelte und rieb sich die Wange.

„Ist es das?“ fragte er leise, den Blick nicht von der Straße wendend. „Ist das ‚Nur Sein‘?“

„Ja. Das ist es.“ entgegnete San ebenso leise und feierlich.

„Ich bin glücklich. Das erste mal in meinem Leben bin ich wirklich glücklich! Ich bin nicht mehr alleine!“

„Du bist zurückgekehrt und erfährst Deine Ganzheit. Dies ist ein heiliger Moment.“

Chris starrte nach vorne und alle Versuche, seine Tränen zurückzuhalten, waren nun vergeblich. Das Glitzern in seinen Augen nahm zu und wie nach einem Dammbruch rollte Träne um Träne seine Wangen herunter. Sein Mund war ein zitternder Strich. Chris fuhr an den Straßenrand und dann brach es durch und er weinte und schluchzte wie er das letzte Mal wohl als kleines Kind geweint und geschluchzt hatte. Er weinte vor Glück und er weinte vor Schmerz. Er weinte vor Freude und er weinte vor Trauer. Chris sah in diesem Moment alles. Alles gebündelt in diesem einen Moment. Das Glück der Einheit. Die Geborgenheit in Ewigkeit und der Unendlichkeit. Und er sah den Schmerz. Den Schmerz allen Lebens und seiner Existenz als irdische Kreatur in dieser seelenlosen materialistischen Welt. Er empfand tiefste Trauer und Mitleid für sich und für all die anderen Getriebenen und Hoffnungslosen, die ihren Weg in Blindheit und Angst in dieser Welt durch die Zeit stolpern müssen. Und er sah wieder das Glück. Das Wissen, dass er und auch kein anderer jemals allein war oder sein wird. Dass es nicht nur Hoffnung gibt, sondern dass die Rettung da ist. Dass die Rettung bereits geschehen ist. Dass er und alle anderen schon immer gerettet waren. Dass es nichts zu tun gibt außer – zu sein. Und Chris schaute zu San und lachte. Lachte aus tiefsten Herzen und in abgrundtiefer Verwunderung über dieses Gefühl des Glücks, dass er so noch niemals in seinem Leben erfahren hatte. Chris lachte und konnte es selbst nicht glauben, was da gerade mit ihm geschah.

San lächelte Chris voller stiller und tiefer Freude an. Er berührte Chris an der Stirn. „Friede sei mit Dir.“, sagte er und auch seine Augen füllten sich nun mit Tränen des Glücks. „Du hast alles erfahren, mein Freund. Ich werde Dich jetzt verlassen.“ Und San schnallte sich gemächlich ab und öffnete die Beifahrertür.

„Warte!“ rief Chris noch ganz außer Atem und mit weit aufgerissenen Augen. „Du kannst doch jetzt nicht gehen! Was soll ich denn jetzt tun? Hilf mir weiter! Ich bitte Dich! Hilf mir weiter!“ San lächelte Chris an, während er die hintere Tür öffnete und sein Gepäck von der Rückbank nahm.

„Du hast alle Antworten bekommen.“ sagte San und schaute gebeugt durch das Beifahrerfenster zu Chris hinüber, der gerade seinen verkrampften Griff vom Lenkrad löste. „Hab keine Angst. Alle Antworten sind in Dir. Du weißt sie nur noch nicht. Hab keine Angst. Du bist nicht alleine. Auch ich bin immer bei Dir. Du bist nie alleine. Heute bist Du ganz geworden. Alles andere wird von selbst geschehen. Fahr jetzt weiter. Mach gleich ein Pause irgendwo und dann fahr – langsam – zu Deinem Termin. Schau was passiert. Versuche jetzt nicht etwas zu tun. Sei. Du hast gerade erfahren, was ‚Sein‘ bedeutet.“

„Okay!“ stieß Chris halb schluchzend und halb lachend mit geröteten Augen hervor. „Dann ‚bin‘ ich ab heute einfach mal. Mal sehen, was dabei raus kommt.“

„Leb wohl, Chris.“

„Leb wohl, San. – und danke!“

„Leb wohl, Chris. – Fahr jetzt weiter.“

„Okay!“

Und Chris bemühte sich, sich von der Gegenwart Sans loszureißen, startete seinen Wagen und fuhr, erst durch das Beifahrerfenster und dann durch die Rückscheibe winkend los. Es war ein sonniger Spätnachmittag im Frühling und Chris konnte auf der geraden Straße nach Osten noch einige Zeit im Rückspiegel sehen, wie San, sein weniges Gepäck über die Schulter geworfen und mit der tiefstehenden Sonne im Rücken, langsam die Straße hinunter ging. Dann war er verschwunden.

Ein Tag nimmt seinen Lauf und geht zu Ende. Er macht Platz für den Tag, der nach ihm kommen wird. Auch an diesem wird die Sonne wieder scheinen und trotzdem wird er anders sein.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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