Ein Seminarwochenende hat sich seinem Ende zugeneigt. Ich habe den Teilnehmern alles mitgegeben, was mir möglich war und sie haben sich alle, überwiegend fröhlich, auf den Heimweg gemacht. Fast alle. Als ich meine Tasche zum Auto bringe, begegne ich noch Claudia. Wir kommen ins Gespräch und ich erfahre, dass sie der Veranstaltung Anfangs skeptisch gegenübergestanden hatte. „Schamanismus“ sei ja bereits ein so ausgetretener Begriff, dass man wirklich nicht weiß, was man von so einem sogenannten „Schamanen“ überhaupt erwarten solle. Ich stimme ihr zu. Ihre Worte treffen genau meine Gefühle und ich sage ihr, dass ich den Begriff im Grunde nicht verwende. Nur in dieser Ausbildungsreihe, in der es an diesem Wochenende eben um „Schamanismus“ gegangen sei, bliebe mir nichts anderes übrig, als ihn zu verwenden. Das Wort Schamanismus sei in unseren Breiten überwiegend nur noch ein Etikett, das der völligen Beliebigkeit des Lifestyles zum Opfer gefallen und vollständig seines Sinnes entwertet worden sei. Wie so viele wichtige Begriffe. Wir reden noch ein wenig und verabschieden uns dann herzlich. Auf der Rückfahrt im Auto habe ich schlechte Laune. Ein diffuses Gefühl und ich versuche, die Gründe dafür im Detail zu erforschen. Auf einmal muss ich an ein Buch denken. Ein Freund meiner Frau hat es einmal aus seinem Regal gezogen und zu ihr gesagt: „Das wäre doch bestimmt etwas für Deinen Mann.“ Er hatte mich zu jenem Zeitpunkt erst zwei Mal gesehen. Das Buch hatte rosa, plüschig beflockte Buchdeckel und einen völlig durchgeknallten Titel, den ich hier nicht wiederholen möchte. Meine Frau händigte es mir aus und ich legte es ob der Aufmachung und des Titels erst einmal weit weg. Ich hatte direkt das Gefühl, es niemals lesen wollen. Eines Tages hatte ich dann das Gefühl, es doch zumindest einmal begutachten zu müssen. Ich hatte zwar kein gutes Gefühl, aber es musste einen Grund dafür geben, dass dieses Buch nun bei mir war. Ich schaute mir den Einband genauer an. „Science“ stand oben drauf. Hmm. Drei Autoren. Aha. Ich schlage es auf. Vorwort: „Prof. Dr. Müller, Dr. Dr. Meier und Prof. Dr. Dr. Schneider, allesamt renommierte Physiker und Kernforscher, erklären physikalische Phänomene der Natur in Bezug auf den Menschen.“ Aha. Na, das war ja wirklich etwas für mich. Physiker, die mir die Welt erklären… Das Fragezeichen über meinem Kopf wuchs. Ich blättere weiter. Einleitung. Überschrift: „Die wohl schärfste Boygroup der Wissenschaft: Prof. Dr. Müller, Dr. Dr. …. usw..“ Es stand wirklich so da. Ungelogen. Vor meinem inneren Auge entstand das Bild von drei Männern in weißen Kitteln, die von jeher mehr mit mathematischen Gleichungen als mit Menschen anfangen können und deren Befreiung aus ihren Jugend- und Universitäts-Traumata darin besteht, dass sie sich jetzt endlich auch einmal als Boygroup bezeichnen können – mit all den feuchten Jungenphantasien, die damit verbunden sind. – so so… Ich blättere weiter. Es gibt noch unzählige Vorkapitel (ich überblättere sie), bevor der eigentliche Inhalt – die Erklärung der Welt – endlich beginnt. Ich bin mäßig gespannt. Es ist eher ein Unwohlsein. Die Konfrontation mit der hart materiellen Sichtweise von Wissenschaftlern – gerade, wenn sie auch noch schön lustig sein wollen – tut mir oft körperlich und seelisch sehr weh. Ich habe eigentlich den Drang, dieses Buch wieder weg zu legen und nicht weiter zu lesen. Nichts Gutes konnte da drin zu finden sein. Zu spät. Zu Beginn des Kapitels wurde nun dem Leser die Frage gestellt, welches von drei zur Auswahl stehenden Tiere er denn gerne wäre. Die Abstufung dieser Tiere war von groß nach klein. Sicherlich wäre ich lieber das große Tier, wird mir von der Boygroup unterstellt. Denn es sei ja so: Sportwagen, Eishockeyclubs und Häuptlinge hießen ja auch immer wie große und starke Tiere. Und auch der Schamane rufe ja, wenn er die Hilfe seiner Schutzgeister benötige, den Wolf oder den Bären und nicht die Ameise oder den Fadenwurm. – Ich spürte hilflosen Zorn in mir aufsteigen. In jenem Augenblick hatte ich den Impuls das Buch mit gesammelter Kraft durch das geschlossene Fenster zu werfen. Alle Vorurteile und schlechten Gefühle bezüglich dieses Buches bewahrheiteten sich bereits in den ersten Fünf Zeilen. Ich war schlagartig voller Wut auf die Autoren und ihre Anmaßung, über Dinge zu sprechen, von denen sie nichts verstehen und über ihre Arroganz, in der sie glauben, mit ihrer Wissenschaft alles beurteilen zu können und dabei doch alles nur durch ihren einseitigen Filter sehen und erkennen können. Und darauf, dass sie diese verstandesgefilterten „Erkenntnisse“ auch noch aufschreiben und auf diese amüsante (oder amüsierte? – „Ma red` ja nur.“ sagt man in Bayern) Art dem Leser unterjubeln. Die Tatsache, dass diese Physiker dem Anrufenden seelischer Kräfte (die auch eine Ameise sein können oder ein Sandkorn oder ein kleiner Kieselstein oder der Haufen meines Hundes) die gleichen Motive zu sprachen, wie sie ein Werbefachmann hat, wenn er sich einen manipulativen Namen für ein Auto ausdenkt, um so die Käufer mit einer Illusion zu locken oder wie sie ein Ölmagnat hat, wenn er sich eine Eishockeymannschaft gekauft hat und sich nun einen martialischeren Namen als die Konkurrenz aussucht, um Eindruck auf die Fans zu machen und alleine schon im Namen überlegen zu sein, empörte mich zutiefst. Meine Güte, hätten sie nicht einfach den Schamanen – und vielleicht auch noch den Häuptling – da raus lassen können? Wenn sie doch von Gott und dem Wesen der göttlichen Kraft nichts wissen, dann sollen sie sich doch bitte bescheiden und sich zurückhalten. – Aber bescheiden und zurückhalten ist nicht so die Sache des Verstandes. Er ist ja nie der Meinung, dass es etwas geben könne, worüber der nicht Bescheid wüsste. Alles in meine Deutungshoheit! Sei sie noch so eindimensional, simpel und ignorant und beschränkt.
Ich war am nächsten Tag immer noch wütend. Die Wut war abgeebbter und klarer. Und so kam ich zum eigentlichen Kern des Gefühls: Die Frage, die ich mir stellte, war warum mich diese drei Physiker mit ihrem plüschigen Buch und ihrem pubertären Einschlag so aufregen konnten. Ich fragte mich: War es wichtig, wie sie sich die Welt mit ihrer Wissenschaftsdampfwalze platt und zurecht walzten? Ich erkannte für mich: Ja, es war wichtig! Denn genau mit dieser Dampfwalze wird den Menschen den ganzen Tag durch ihren Kopf gefahren, denn was war denn die Kernaussage, die hinter jener scheinbar spielerischen Darstellung eines (scheinbaren) Phänomens zu Tage tritt? Die Kernaussage ist Folgende: Seelisches Handeln ist genau so schal wie Verstandeshandeln. Seelisches Handeln ist nur die übliche egozentrierte und manipulative Augenwischerei, mit der man sich selbst trickreich überhöhen oder andere untergraben will. Es ist nichts Echtes. Es ist das gleiche, wie materielles Handeln auch. Ja, es ist materielles Handeln. Der unausgesprochene Folgeschluss: Es gibt keine seelischen Handlungen. Alles, was ihr in der Richtung seht, ist auch nur der eitle Tanz des Verstandes! Der Schamane, der Werbefachmann, der Eishockeyclub. Alle unterwerfen sich den Gesetzen des Verstandes – Damit werden die Menschen dann alleine gelassen. Die pubertierenden Wissenschaftler gehen zurück in ihren Elfenbeinturm zu ihren schönen Zahlen und der Mensch steht alleine da, mit dieser Darstellung der Welt, in der alles nur materieller Lug und Trug sein soll. In der alles nur zum Tode führt und er sehen soll, wie er trickreich und voller Selbstbetrug am besten dorthin gelangt. Eine Darstellung, verantwortungslos und amüsant (amüsiert?) präsentiert von den Hohepriestern unserer Gesellschaft, denen, denen geglaubt wird: Den Wissenschaftlern. Die sich selbst als Boygroup bezeichnen… Wer einmal die Texte von Boygroup-Songs gelesen hat, der erkennt die Ironie an der Sache.
Das war es, was mich so wütend gemacht hat. Es ist das, womit ich jeden Tag konfrontiert bin. In so vielen Köpfen sitzt unbewusst diese von solchen Boygroups (der Begriff gefällt mir immer besser) unterschwellig eingepflanzte Haltung. Seelisches Handeln ist doch wohl auch nur materielles Handeln. Man „macht“ mal dies und man „macht“ mal das. Vielleicht hilfts ja. Vielleicht auch nicht. Ist eh nur Tamtam und schöne Worte. Genau so ein schaler Mist, wie in der Werbung, Politik und überall überhaupt. Aber man muss ja was machen… Was bleibt einem denn sonst… Schamane, Yin, Yang, Energie, Yoga, Strahlung, Engel, Krafttiere, Seele, bla, bla, bla. Ich kanns eigentlich nicht mehr hören. Genau der gleiche Kram wie die Werbung im Fernsehen. Nichts ist wirklich. Alles ist Lug und Trug. Dann nehme ich doch lieber den Bären als die Ameise. Ist besser für mein Ego. Mehr als Ego gibt es ja nicht.
Deswegen hatte ich nach meinem Gespräch mit Claudia schlechte Laune. Deswegen fiel mir das besagte Buch wieder ein: Die Teilnehmer gingen an jenem Abend gut gelaunt nach Hause. Aber bei wie vielen sitzt die Dampfwalze im Kopf, die alle seelische Erfahrung dieses Wochenendes wieder zu einem reinen Verstandesgeschehen platt walzen wird? Zu etwas beliebigen, konsumierbaren. Zu einem Zeitvertreib, der nichts anderes ist, als alles andere auch. Die Dampfwalze, die aus einer einmaligen und uns so fehlenden Erfahrung von Gottesnähe nur wieder ein Produkt macht, das man nach kurzer Zeit wieder vergessen hat (Man kann es ja im nächsten Sommer wieder buchen). Weil das besondere und einzigartige – das erlösende – daran für die Dampfwalze nicht existieren darf?
Mit jedem Blick aus dem Fenster sehe ich das gleiche, was die Boygroup sieht. In Ordnung! Es ist das physikalische und materielle Phänomen, das meine fünf Sinne wahrnehmen. In Ordnung! Aber das ist eben nicht alles. Ich nehme mit dem Seelensinn den Rest wahr. Das Ewige, Unendliche und die Einheit. Ist das auch in Ordnung für die Boygroups? Ich sehe den Schein. Das Auto, das Mustang heißen muss, damit der Mensch sich die Illusion der Freiheit und Kraft kaufen kann. In Ordnung, Boygroup? Ihr sagt doch selbst dass der Schein der Grund für diese Namenswahl ist.
Ich sehe die Wahrhaftigkeit jenseits des Scheins. Unsichtbar ist diese für die fünf Sinne in allem was existiert. Ob groß oder klein. Sichtbar wird diese Wahrhaftigkeit aber im Handeln des Gott zugewandten Menschen, in dessen Einfachheit und Bereitschaft, sein Ich hinten an zu stellen. Oder im besagten Schamanen. Der de-fi-ni-tiv die Kraft des Bären nicht größer schätzt als die der Ameise. Der weiß, dass so etwas bedeuten würde, dem äußeren Schein zu erliegen und die Essenz der Welt nicht zu begreifen, in der das äußere Erscheinungsbild bedeutungslos ist. Die Wahrhaftigkeit in allem ist dem Verstand nicht zugänglich, da er den Seelensinn nicht nutzen kann. Die Wahrhaftigkeit in den Menschen – der irdische Ausdruck dieser Wahrhaftigkeit in Einzelnen – ist ihm durch seine fünf Sinne zugänglich.
Das Ergebnis dieser Blindheit für die Wahrhaftigkeit hinter dem Schein sehen wir bei unserer Boygroup: Der Wahrhaftige wird marginalisiert, zur Belustigung benutzt und mit antisozialen Marketingmenschen und kampfeslustigen Großindustriellen oder Vereinsgründern in einen Topf geworfen. Im besten Fall ist der Schamane eben einer, der sich (und anderen natürlich) lieber etwas mit einem Bären vormacht, als mit einer Ameise. Jemand, der auch über die materielle Sicht nicht hinaus kommt. Denn anders geht es nicht. Es gibt nur den Schein. Und es fröstelt mir bei dem Gedanken an diese selbsternannte Boygroup. Denn der Verstand alleine ist schon gefährlich genug. Der Verstand mit der Reife eines Kindes im Körper und mit der Macht eines Erwachsenen walzt alles platt… Und diese Hohepriester favorisieren den Verstand, die Materie, die Physik und ihr kindliches Gemüt. Ganz offen und ohne Scham… Es ist ja heutzutage charmant, ein wenig kindisch zu sein. Die Verantwortung für Wort und Tat ist geringer. Das Lästige gibt man ab. Und wenn man nicht bekommt, was man will, dann lässt man es knallen. Unreflektiert nach Kindermanier. Und man muss es mit der Welt auch nicht so genau nehmen und schreibt ein lustiges pinkes Plüschbuch… Sie sehen. Ich bin immer noch etwas wütend. Denn ich hätte mir gewünscht, dass das Wort „Schamanismus“ – als ein Begriff von so vielen – klar geblieben wäre. Dass es seine Bedeutung und somit seine Kraft behalten hätte. Dass es nicht zu einem Lifestylebegriff geworden wäre. Dass es nichts Beliebiges geworden wäre. Ein Etikett, das sich jeder ans Revers heften kann. Sei es nur, um Geld damit zu verdienen oder um sich zu erhöhen. Und ich hätte mir gewünscht, dass Claudia ohne Skepsis zu der Wochenendveranstaltung hätte gehen können. Ohne das ungute Gefühl, dass alles nur der gleiche Schein ist, wie alles andere auch. Mit dem Wissen, dass sie dort etwas besonderes erwarten wird. Einfach deswegen, weil Schein und Wahrhaftigkeit noch unterscheidbar sind und die Dampfwalze noch nicht alles platt gewalzt hat, was sie unter ihre Walzen bekommt.