Eine angeborene und unentdeckte “Sehschwäche“. Eine Hornhautverkrümmung. Nun eine Brille. Jetzt hätte ich, sagte man mir, 130% Sehschärfe. Ein-hundert-und-dreißig Prozent! – Wow!!! So gestochen scharf kann die Welt gesehen werden!?!? So… trennscharf! möchte ich fast ausrufen. So konturiert, 3D und… getrennt in alle Einzelheiten. Ein Rausch der Details! Vielleicht sollte ich auch mal zum Ohrenarzt gehen. Wer weiß was sich noch alles hören lässt! Oder riechen!
Ich komme ins Nachdenken und frage mich: Was hätte ich alles nicht(!) getan, hätte ich die Welt bereits immer so aufgetrennt gesehen? So in Details, von denen jedes einzelne betrachtet, bewertet und bedacht werden will und dem Betrachter seinen unleugbaren Anspruch auf Wahrheit und Existenz schrill und schneidend ins Gesicht schreit?
Vielleicht hätte ich nichts von alledem getan. Gefangen im Detail. In angstvoller Überforderung. Im Gefühl der Kleinheit im Hinblick auf all die Unsicherheit, die sich vor meinem Auge nicht überschaubar ausbreitet. Mit so einem trennscharfen Auge, da bleibt im Strom der detaillierten Detailinformationen dieser Welt kein Raum für die Wahrnehmung dessen, was hinter diesen messerscharfen Konturen verborgen liegt.
Wenn ich wirklich etwas sehen will. Etwas wirkliches sehen will, dann setze ich die Brille ab.
Aber mit Brille sind fremde Menschen freundlicher zu mir. Erstaunlich. Vielleicht habe ich vorher immer etwas komisch aus der Wäsche geguckt.