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Raus aus der Kiste – und dann?

Anspannung. Grenzenlose Anspannung. Das ist der Zustand vieler Menschen in unserer Gesellschaft. Sie sind wie Luftballons, die zu eng, viel zu eng mit tausenden von anderen Ballons in eine Kiste gepresst worden sind. Es herrscht ein Druck, der ihr Ego zusammendrückt. Es ist immer Bedrängnis. Es herrscht immer Reibung. Jeder versucht automatisch – ohne bewusstes Handeln – sich auszudehnen und soviel Raum einzunehmen, wie es ihm gelingt. Dies tut er zu dem Preis, dass er diesen zusätzlich von ihm in Anspruch genommenen Raum anderen weg genommen hat, er diese dadurch in noch größere Bedrängnis bringt und den Gesamtdruck erhöht. Es gibt einfach keinen leeren Raum in dieser Kiste.

Kommen diese Menschen zu uns, dann tritt ein mich immer wieder verblüffender Effekt ein: Nach kurzer Zeit der Orientierung wollen sie auf unterschiedlichste Arten vor Ort die Kontrolle übernehmen. Sie fangen an zu reden. Ohne Punkt und Komma. Sie reden von sich im Gegensatz zu anderen. Von ihren Meinungen. Von ihren Ansichten.

Sind sie erst noch überrascht, wie widerstandslos sie sich hier ausdehnen dürfen, so wandelt sich diese Überraschung schnell in ein hartes Beharren, das alles erstickt, was auch nur im entferntesten den Verdacht erweckt, ihre Ausdehnung behindern wollen. Diese einmalige Gelegenheit muss voll und ganz genutzt werden, verteidigt werden gegen alle anderen. Das Wort des anderen wird vorsorglich abgeschnitten. Es könnte etwas beinhalten, das die eigene Ausdehnung bremsen könnte. Einen Themenwechsel zum Beispiel. Oder eine Korrektur. Oder etwas, worüber der andere mehr zu erzählen hätte, als man selbst. Manche reden tagelang von sich ohne auch nur zu bemerken, wie wir Stunde um Stunde schweigend ohne Möglichkeit der Beteiligung da sitzen.Sie beginnen uns (wenn es Männer sind besonders mich) zu korrigieren und zu verbessern – uns mit ihren Meinungen zu dominieren. Sie beginnen, Recht und Unrecht zu definieren. Sie versuchen mich und meine Frau zu trennen. Subtile Fronten zu erzeugen. Ganz unbewusst und automatisch. Manche bringen etwas zu essen mit und versuchen uns dann später darüber zu kontrollieren. Wir werden zu Gästen im eigenen Hause gemacht. Der Gast schwingt sich zum Gastgeber auf. Sie sind reflexartig misstrauisch und auf hab acht. Kommt man zu Wort, dann wird dieses Wort untersucht, ob es nicht einen Angriff oder eine Zurechtweisung beinhalten könnte. Selbst einfachste Äußerungen werden als möglicher Angriff klassifiziert. Die Schubladen der Kistenwelt werden auf- und zugezogen. Und immer mehr berauschen sie sich an ihrem eigenen Wort, das hier so ungewöhnlich frei sprudeln darf. An ihrem Lernwissen. An ihrer Beredsamkeit. An ihrer plötzlichen Kontrolle und der scheinbaren Macht, der niemand etwas entgegensetzt und die zu haben sie auch vorher gar nicht erwartet hatten. Sie sind ganz verblüfft von den Möglichkeiten, die man ihnen hier lässt. Und sie nutzen sie grenzenlos aus. Wir werden zu Statisten gemacht, die die Ehre haben diesem Schauspiel folgen zu dürfen. Ihr Ego lehnt sich selbstverliebt im Sessel zurück, schaut entrückt zur Decke während es seinen eigenen Worten voll Verzückung lauscht. Es sonnt sich in sich selbst, denn es hat bei uns endlich etwas, was es woanders nicht hat: Eine Leere, in der es sich ausdehnen kann. Und diese Ausdehnung wird dann immer rasanter und ungehemmter.

Wir sind sehr erschöpft nach solchen Besuchen. Wir sind erschlagen von dieser Grenzenlosigkeit. Wir bieten viel Stille und Leere. Ist meine Frau freundlich, dann wird dies vom selbst trunkenen Ego als Zustimmung oder sogar noch als Ansporn verstanden, weiter zu machen. Oft werde ich von Männern dann unbewusst als Konkurrent ausgemacht und mehr oder weniger subtil attackiert. Mache ich wenige Worte – weil ich nur durch Lautstärke oder Unterbrechung des Redeflusses des Gastes das Wort überhaupt erhalten könnte -, lasse mich also nicht auf die Konfrontation der Egos ein und gebe dem Gast seinen Raum, dann wird dies ebenfalls als Zustimmung gedeutet oder in dieser Welt des Kampfes Jeder gegen Jeden: als Schwäche.

In meiner Jugend war meine Haltung anders.Ich weiß, dass ich es früher in keiner Situation so weit hätte kommen lassen. Schon früh hätte ich erkannt, wie der Hase läuft. Dass da ein kleiner Geist zu glauben scheint, mächtig Wind machen zu können. Dass sich da jemand verdammt überschätzt und er das auch erkennen sollte. Ich hätte die Schwächen des Gegenübers ausgemacht und ihm mit einem messerscharfen tödlichen verbalen Stich blitzschnell die Luft aus seinem aufgeblasenen Ego herausgelassen und ihn auf seinen Platz verwiesen. Ich hätte ihm gezeigt, was er besser nicht mit mir hätte machen sollte. Ich hätte ihm gezeigt, dass es ein Fehler war, sich als blutiger Amateur mit mir anlegen zu wollen. Hätte er mich sehr gereizt, ich hätte ihn vernichtet und weinend nach Hause geschickt. Gestraft für seine Überheblichkeit. Mit einem… einzigen… Satz… – Ich habe aber mit den Jahren erkannt, wie leer und zerstörerisch es ist, auf diese Mechanismen einzugehen und selbst auf sie zurück zu greifen. Außer einer Vergrößerung der Trennung erreichen wir damit nichts. Nun lasse ich mich nicht mehr auf diese Spiele ein – und muss aber auch mit den daraus resultierenden Konsequenzen zurecht kommen. Weil es in meinem Leben nicht mehr um mich als Person geht, müssen die Lösungen in solchen Situationen nun woanders zu finden sein. Ich fühle mich nicht mehr angegriffen. Nur erschöpft. Ich frage mich dann bange: „Wird dieses Ego sich jetzt weiter und weiter ausdehnen? Wird es zu einem maß– und grenzenlosen Monster werden? Wird es am Schluss den ganzen unendlichen Raum ausfüllen, den wir ihm hier anbieten? Was wird aus diesem Menschen? Das ist nicht der Zustand, in dem er sein sollte. Was können wir tun, wenn wir uns nicht mit alten Methoden des Gegendrucks in das Spiel begeben wollen? Wenn wir nicht unsere innere Integrität verlieren wollen? Dieses Ego wächst und wächst und bald sind wir für es nur noch so groß wie Staubkörner. Welchen Einfluss können wir dann noch nehmen?

Lange habe ich mich mit diesem Problem (es war wirklich ein Problem für mich) auseinandergesetzt. Irgendwann wurde mir gewahr: Das Ego kann sich nicht unendlich ausdehnen. Es wird den unendlichen Raum nicht ausfüllen können, weil es selbst nicht unendlich ist. Sind wir in Gegenwart dieses sich ausdehnenden Egos erschöpft, dann halten wir noch zu sehr an unserem eigenen Raum fest. Wir bieten dem Ego nicht die gesamte Unendlichkeit, sondern versuchen selbst etwas davon zurückzuhalten. Der ausschlaggebende Faktor neben der Unendlichkeit des Raumes ist die Ewigkeit der Zeit. Geben wir dem Ego allen Raum, den es benötigt, um sich auszudehnen und geben wir dem Ego dann auch noch die Ewigkeit, dies zu tun, dann wird es irgendwann zu einem Punkt kommen, an dem es sich nicht mehr ausdehnen kann. Der Mensch wird zu einem Punkt der Ruhe kommen. Früher – oder eben später… Meine heutige Erfahrung ist: Oft müssen wir nicht Myriaden von Jahren warten, bis dies geschieht. Oft reichen auch einige Tage, bis das Ego zu Ende expandiert hat. Und dann kann der Mensch ruhen in der Stille der Ewigkeit und Unendlichkeit. Wenn wir in der Lage sind, ihm beides darzureichen.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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