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Meine Tante ist gestorben…

Meine Tante ist gestorben. Plötzlich und für uns alle unerwartet. Vor einer Woche erhielten wir von ihrem Mann die Todesnachricht. Sie sei vor einem Monat erkrankt, immer mehr abgemagert, bettlägerig geworden und dann – – – gestorben. Meine Tante wollte keinerlei ärztliche Hilfe. Noch am Vortage ihres Todes hat sie einen von ihrem Mann gerufenen Notarzt abgelehnt. Die Familie steht unter Schock. Nicht nur wegen der Umstände oder allein wegen der Plötzlichkeit ihres Todes, sondern auch weil sie die Jüngste war. Sie war mit ihren 55 Jahren die jüngste von acht Geschwistern deren Älteste in diesem Jahr 76 Jahre alt geworden ist. Niemand hätte im Traum daran gedacht, dass Tante Christine die erste sein wird, die aus dem Leben tritt. Nicht das Nesthäkchen.

So stehen wir nun an einem Montagmittag auf dem Friedhofsvorplatz. Vielleicht drei Dutzend Menschen in Trauerkleidung. Bedrückt. Unüblich ernst. Selbst für eine Beerdigung. Todernst. Die Sonne scheint ein mildes September-Licht. Es hat den Tag davor geregnet. Die Luft ist lau und angenehm. Ein, zwei Vögel zwitschern. Ich stehe zusammen mit zwei Onkeln und einem Cousin vor der großen Trauerhalle. Einem modernen Backsteinbau mit großen matt gebürsteten Metalltüren. Sie erwecken einen eigentümlichen Eindruck von Plastik. Geschmackssache. Nicht so wichtig.

Mein Onkel setzt an, nervös: „Schrecklich ist das! Jederzeit kann es passieren! Jeden Tag muss man leben. Richtig leben! Es kann so schnell vorbei sein!“ Er ist ein schmaler und kleiner Mann. Ein Spanier, der vor mehr als dreißig Jahren nach Deutschland kam und eine Schwester meiner Mutter geheiratet hat. Er hat einen blassen Teint. Unüblich für die üblichen Vorstellungen von einem Spanier. Das „s“ betont er immer noch auf die der spanischen Sprache eigentümlichen Art. Mein Cousin stimmt zu: „Ja! Jeden Tag muss man leben. Nicht so viel Gedanken machen. Manche können das. Ich weiß nicht, wie die das machen!“ Ich sage: „Ja. Jeder Augenblick kann der letzte sein.“ Mein zweiter Onkel steigt in das Gespräch ein, aufgebracht: „Ja. Und bloß nicht daran denken! Da wirst Du ja verrückt, wenn Du immer daran denken würdest! Ohhh Nein, da würdest Du ja verrückt!“ Er ist ein kräftiger und untersetzter Typ. Ein ehemaliger Seemann mit tätowierten Armen und einer Narbe an der Kehle von einem Messer, das man ihm in jungen Jahren in einer Kneipe dort hinein gestoßen hat.

Sie haben alle Angst. Der Tod wirft ihren Schatten über diese gestandenen Männer und lässt sie erschauern. Ich bin erschrocken. Ich erkenne erstmals wirklich, wie ratlos der Mensch dem Tod gegenübersteht. Und damit auch dem Leben. Bloß nicht an den Tod denken! Einfach weiter machen. Schöne Sachen machen. Die kurze Zeit mit was Schönem verbringen. Die Sorgen wegschieben – – – und die Sinnlosigkeit des Lebens eben auch. Der Tod kommt früh genug und dann ist er da und dann ist alles vorbei. Alles ist dann umsonst gewesen. Aber das will ich mir jetzt nicht vor Augen führen, sondern nicht mehr dran denken und jeden Tag „leben“!

Es ist nicht der Zeitpunkt, ihnen zu sagen, dass ich jeden Tag an meinen Tod denke. Gerne würde ich sie verstehen lassen, dass nur so das Leben gelebt werden kann. Das Leben ist da. Der Tod ist da. Das Leben ist da. Er gehört dazu und ist neben der Geburt die mächtigste Kraft des Universums. Aber er ist nicht schlimm. Für das Ego scheint er schlimm, weil es keine Ruhe will. Für die Seele ist er nicht schlimm, weil sie ewig ist und im Leben und im Sterben keinerlei Veränderung unterliegt. Mein Ego fürchtet den Tod auch. Es muss ihn fürchten, denn es ist die Waffe unseres Überlebensinstinktes und hat die Aufgabe uns so lange am Leben zu erhalten, wie es notwendig und möglich ist. Aber das Ego, der Verstand, ist nicht alleine ausschlaggebend. Die Stimme der Seele hat ihr eigenes Gewicht und sie sagt ‚Sei ohne Sorge. Leben und Tod sind eins. Sie gehören zusammen und nur in dieser Wahrheit können wir unsere Existenz im Sinn verbringen‘.

All das kann ich ihnen nicht sagen. In diesem Moment muss ich sie ihrer Angst und ihrem Gefühl der Sinnlosigkeit überlassen. Hier auf dem Friedhofsvorplatz kann ich ihnen nicht vermitteln, das sie neben ihrem Verstand auch die Seele hören müssen.

Christines Familie trifft ein. Ihr Mann, zwei Söhne, eine Schwiegertochter. Wir schütteln schweigend Hände und ziehen hinter ihnen her in die Trauerhalle ein. Der Pfarrer, ein kleiner bärtiger Pakistaner, hält einen kraftvollen Gottesdienst. Er betont noch einmal die Ratlosigkeit, mit der der Mensch dem Tode gegenübersteht und die Sinnlosigkeit, die sich für ihn im Angesicht des Todes daraus ergibt. Aber Gott fängt uns auf!“ sagt er. Ein Satz, der mit der Seele gehört werden muss. Mit dem Verstand aufgenommen, bleiben diese Worte leer. Das ist immer das Dilemma. Wer mit der Seele hört, der weiß und braucht diese Worte nicht als Trost. Wer mit dem Verstand hört, der zweifelt und möchte glauben, aber für ihn bleiben diese Worte leer und bieten ihm nichts, an dem er sich wirklich festhalten kann.

Zum Ende hin singen wir Dietrich Bonhoeffers Lied „Von guten Mächten treu und still umgeben“. Ich weine während ich singe. Ich weine und ich weine. Es sind keine Tränen der Trauer. Es sind Tränen der Berührung. Es sind Tränen der Dankbarkeit, der Geborgenheit und meiner Einheit mit Gott. Dietrich Bonhoeffer schrieb dieses Lied im KZ im Angesicht seiner baldigen Hinrichtung. Er befand sich Tag für Tag im Angesicht seines Todes und war doch so voller seelischem Wissen. Zeilen voller Wahrheit. Nicht abstrakt zuhause am Schreibtisch zusammen gedichtet, sondern entsprungen aus aller seelischer Kraft in seiner dunkelsten Stunde. Ich spüre die Wahrheit. Ich spüre Gott und ich bin froh und voller Liebe.

Dietrich Bonhoeffer hatte keine Wahl. Er konnte nicht die Augen verschließen und auf die Verdrängung des Todes setzen, wie es die Strategie meiner Onkel ist. Und doch war er voller Kraft und geborgen im seelischen Wissen. Jetzt und hier sollten wir beginnen, uns des Todes anzunehmen. Ihn anzunehmen als eine essentielle Kraft unserer Existenz. Tun wir es nicht, dann werden wir immer nur halb sein und existieren ohne Sinn. Wir werden kein Wissen erlangen können und immer ratlos bleiben.

Der Gottesdienst ist zu Ende. Wir verlassen, den Urnenträgern folgend, die Trauerhalle. Ich trete hinaus und die Sonne trifft mich mit ihrer ganzen Gewalt, ihrer ganzen Helligkeit, ihrer ganzen Wärme und ihrem ganzen Licht mitten ins Gesicht. Sie scheint genau in das Tor, durch das wir hinaus schreiten. Nicht mehr milde, wie noch vor einer Stunde, sondern voller Kraft. Ich hebe den Kopf, genieße das Licht und die Wärme und möchte Lachen! So wunderbar ist alles. Christine! Für Dich können wir uns freuen. Die Lebenden sind es, für die wir sorgen müssen… denen wir das Wissen bringen müssen.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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