Im Tier wirken die Seele und der materielle Überlebensinstinkt. Die Seele erzeugt im Tier das Wissen um das Leben, die Gemeinschaft, den Frieden und den inneren Sinn. Sie ist immer ruhend und immer gleichbleibend präsent. Der Überlebensinstinkt erzeugt im Tier das Wissen um die Einsamkeit, die Trennung und den Schmerz. Herrscht Friede, dann ist der Überlebensinstinkt gering und der Einfluss der Seele groß. Kommt Gefahr, dann wächst der Überlebensinstinkt im Verhältnis zur entstehenden Trennung und dem zu erwartenden oder bereits präsenten Schmerz an und steigert sich im Äußersten bis zum rasenden Hass. Um dann, wenn die Gefahr vorüber ist, wieder klein zu werden. Um dann vom Hass gegen das Außen zur mehr oder weniger ausgeprägten Aufmerksamkeit den äußeren Begebenheiten gegenüber zu werden. Um zum Beobachter, zum reinen Wahrnehmer zu werden. Der Überlebensinstinkt tritt in den Hintergrund. Das Tier besteht nur aus Seele und materiellem Überlebensinstinkt. Es existiert im und durch das Wechselspiel dieser Kräfte, je nachdem, wie das Äußere sich ihm zeigt. Stille oder Hass. Es ist ihm gleich. Es denkt nicht darüber nach. Es reagiert. Je nach dem veranlagten Temperament. Dem ihm innewohnenden Grundverhältnis von Seele und Überlebensinstinkt.
Das Tier Mensch besteht ebenfalls aus Seele und Überlebensinstinkt. Den Überlebensinstinkt nennen wir bei ihm Ego. Das Ich. Das Vereinzelte. Oder das Individuelle, so sagt man heutzutage beschönigend. Das Tier Mensch hat aber noch eine weitere Komponente in sich und das ist das Bewusstsein. Das Bewusstsein fasst die Wahrnehmungen der Seele und des Egos zusammen. Es macht die Zusammenhänge des Kosmos, die sonst verborgen sind, im Menschen sichtbar. Es ermöglicht dem Überlebensinstinkt, dem materiellen Prinzip, den Ausdruck in Gedanken und Worten. Es bringt die Erfahrung der Zeit in die Welt. Diese Erfahrung des Egos und alle seine anderen Wahrnehmungen können nun mit Worten beschrieben werden. Genannt werden. Das Prinzip des Urteilens wird offenbar. Das Konzept des Planes wird sichtbar gemacht. Urprinzipien, Urkonzepte, die überall in der Schöpfung sonst verborgen sind und unerkannt wirken. Den Sinn erhalten diese nun offenbaren Wahrnehmungen des Egos durch die Wahrnehmungen der Seele. Wenn diese beiden Wahrnehmungen im Bewusstsein des Menschen vereint sind, dann ist er das Abbild des Kosmos, der gesamten Schöpfung. Dann ist er Harmonie. Dann ist er der materielle Ausdruck des Sinns. In Wort und Tat. In seiner reinen Existenz. Das Bewusstsein macht das Seelische und das Materielle zu dem einen Ganzen. Da die Seele ruht und nichts „machen“ kann und das Ego nur die Trennung kennt und von Einheit nichts weiß, ist es das Bewusstsein, das aus dem Ruhenden und dem Getrennten, das Handelnde Eine erschaffen muss. Das Bewusstsein, selbst erschaffen durch Seele und Ego muss nun seine Schöpfer ordnen.
Wenn wir also sprechen oder denken, dann ist das nicht unser Ego, welches spricht oder denkt. Es ist unser Bewusstsein, welches die Wahrnehmungen unserer materiellen Sinne, unseres Egos, unseres Überlebensinstinktes sichtbar macht. Ins Verhältnis gesetzt zu den seelischen Wahrnehmungen. Daraus entsteht unser materielles Handeln. Geprägt durch größeren oder geringeren Einfluss der seelischen Wahrnehmungen unseres Bewusstseins.
Dem Bewusstsein steht dadurch jede in der Schöpfung mögliche Erfahrung zur Verfügung. Von der Erfahrung des maximalen Hasses bis hin zur Erfahrung maximaler Einheit und Geborgenheit.
Wenn es nicht das Ego ist, das selbst spricht und denkt, sondern Gedanken und Worte nur ein Ausdruck von sensorischen Wahrnehmungen durch das Bewusstsein sind, dann ist unser Ego selbst nur eine sensorische Wahrnehmung, die auf einer Einseitigkeit, einem Übergewicht, der materiellen Sicht beruht. Auf der Wahrnehmung von Trennung. Unser Ego ist also nur ein Punkt auf der Skala der möglichen Wahrnehmungen unseres Bewusstseins. Je nachdem, wohin sich der Zeiger bewegt (wer bewegt ihn? Das ist auch eine interessante Frage), zu mehr seelischem oder zu mehr materiellem Input, ist in unserem Bewusstsein mehr oder weniger Wahrnehmung eines Ego vorhanden. Also sind Ego und Nicht-Ego zwei gleichberechtigte, ineinander übergehende Wahrnehmungszustände des Bewusstseins. Der Unterschied zwischen diesen beiden extremen Punkten auf der Skala ist nur, das die Wahrnehmung von Ego zu zunehmender Angst vor dem „eigenen“ Ende führt, während in der Wahrnehmung des Nicht-Egos dies natürlich keine Rolle spielt. In der Wahrnehmung von Nicht-Ego ist ja nichts da, was zu Ende gehen könnte. Es herrschen dort nur Einheit und Ewigkeit. Das Bewusstsein klammert sich deshalb, einmal weit in den Bereich des Ego geraten, an den materiellen Zustand, denn seine Wahrnehmungen sind die der Angst vor dem Tod. Auch die Möglichkeit einer Zunahme von seelischer Wahrnehmung macht dem Bewusstsein im Ego-Zustand dann Angst, denn auch das würde auf der Ebene des Bewusstseins das Sterben des Egos bedeuten. Darin liegt einer der Gründe, warum es uns oft so schwer fällt, uns zu spiritueller Aktivität aufzuraffen. Das Ego wehrt sich gegen seine „Betäubung“. Um diese Abwehr zu Überwinden muss durch Praktizieren ein Punkt erreicht werden, von dem an eine Ego-Auflösung im Bewusstsein keine Angst mehr verursacht. Das Pendel muss durch Praktizieren so weit vom Ego aus in den Bereich des Nicht-Ego bewegt werden, dass die Erfahrung von Ego im Bewusstsein nicht mehr übermächtig ist und es dadurch die Auflösung von Ego (zumindest eine zeitweilige) nicht mehr blockiert. „Praktizieren“ bedeutet aber erst einmal nicht unbedingt ausgefeilte und Lehrbuch getreue Durchführungen von spirituellen Praktiken. „Praktizieren“ bedeutet, den Angst-Mechanismus zu übergehen. Es bedeutet, zur Ruhe zu gelangen. Zu sitzen, bis das Ego nicht mehr kann. In die Natur zu gehen. Berge zu sehen, Wälder zu sehen, Schönheit zu sehen, die das Ego beschränken und kleiner machen, die die Erfahrung zulassen, die Worte „Geborgenheit“, „Liebe“ ganz leise, fast ungehört, zugeflüstert zu bekommen von der umgebenden Natur. Praktizieren bedeutet, „gute“ Menschen aufzusuchen und durch deren Bewusstsein das eigene zu verändern. Die guten Menschen wohnen in der Nachbarschaft. Nicht in Nepal oder sonst wo. Praktizieren heißt, sich einmal zu einem kleinen und günstigen – ruhigen und unaufgeregten – Seminar anzumelden und dort die Menschen zu treffen, die auch wieder ihren Sinn suchen und sich von deren Bewusstseinen in Gemeinschaft beeinflussen zu lassen. Das alles verschiebt das Pendel aus dem Bereich der Ego-Angst. Langsam aber sicher. Dass unsere ganze Welt seit langer Zeit ausschließlich aus Ego-Angst erschaffen ist, macht diesen Prozess nicht unbedingt leichter, aber es geht. Langsam aber sicher. Vor allem: langsam. Geduld üben ist auch Praktizieren. Hingabe an die Zeit, die es dauert.
In verschiedenen spirituellen Schulen stellte sich immer die Frage, ob die Erkenntnis Gottes durch Üben (Praktizieren) erlangt werden könne oder ob die Erkenntnis einfach zu einem komme. Die letztere Ansicht hat sich vielerorts durchgesetzt und ich stimme dem zu. Die Erkenntnis kann nicht – aktiv – erlangt werden. Sie kommt einfach zu uns. Trotzdem glaube ich, dass die Erkenntnis nur zu uns kommen kann, wenn das Ego nachgibt, wenn es sich verkleinert. Sei es nur für den Bruchteil einer Sekunde, in welcher unser Bewusstsein dann mit mehr seelischem als materiellem Wissen versorgt ist. Wir können also zumindest unser Ego durch Praktizieren verkleinern und Raum für seelische Erkenntnis bereitstellen. Die kommt dann, wenn sie kommt und nicht, wenn wir meinen, genug praktiziert zu haben. Denn dieses Meinen ist bereits wieder ungeduldiges Ego, das etwas kontrollieren will.
In unserer Gesellschaft hat das Ego (oder nennen wir es besser: das durch die materielle Wahrnehmung im Bewusstsein wirkende Prinzip) den Begriff des Bewusstseins gekapert. Es ist ja nur logisch, dass in einer Welt in der nur Materie existiert, im Materialismus, auch das Bewusstsein Materie sein muss. Und wenn es Materie ist und dem Menschen „individuell“ innewohnt, dann kann es nur das Ego sein, denn im Menschen existiert ja nichts außer dem Ego. So rettet sich das Ego vor der Auflösung, indem es das Bewusstsein so füllt, dass dieses nichts mehr außer Ego wahrnimmt, nur noch das Ego als einzige Form der Existenz wahrnimmt und zum willfährigen „In-die-Weltbringer“ rein materieller Vorstellungen, angstvoller Überlebensinstinkt-Vorstellungen, wird. So schützt sich das Ego vor dem (scheinbar) mörderischen Feind in sich selbst. So verhindert das mit Angst gefüllte Bewusstsein selbst, dass eine Transformation zu mehr Geborgenheit und Einheit in der Wahrnehmung und dadurch in der Existenz stattfinden kann. So ist es unser Bewusstsein, das den Sinn nicht mehr erkennen kann und sich selbst daran hindert, das göttliche Prinzip im Menschen zu verwirklichen.