.

Die Irmas dieser Welt

Ich war einmal zu einer mehrtägigen Veranstaltung einer Kräuterfachschule eingeladen, die sich auch der Pflege der spirituellen Aspekte des Lebens widmete. Ich hatte einen ganzen Tag mit den Teilnehmern und so kamen wir auch in den Pausen ins Gespräch. Wir sprachen über verschiedenste Dinge und ich bekam so einen kleinen oberflächlichen Eindruck von den Teilnehmern und von der Art, wie sie miteinander umgingen.

Und es war da eine kleine Frau. Sie war wohl bereits 70 Jahre alt und sah aber doch wesentlich jünger aus. Alle behandelten sie ein bisschen wie „klein Irma“. Sie hatte einen schmucklosen und kindlichen Kurzhaar-Pony-Haarschnitt. Sie wirkte auf alle etwas naiv. Sie erzählte mir freimütig von ihrer Schwester, die sie drängen wollte, den Garten aufzugeben und zu ihr zu ziehen. Von ihrem Enkel, der so bequem sei und den sie jeden morgen wecken müsse, damit er auch zur Arbeit ginge und von ihrer Ehe, die sehr kurz war, weil es wohl nicht so richtig geklappt hatte. All dies erzählte sie nicht klagend, sondern so, wie man vielleicht erzählt, was einem heute so bei der täglichen Hausarbeit an nicht sonderlich aufregenden Sachen widerfahren ist. Allen Teilnehmern erschien sie eben als die etwas naive kleine Irma, die immer alles für die anderen getan hat und noch heute tut, die sich nicht einmal darüber erzürnt, sondern mit Gleichmut darüber hinweg geht. Vielleicht merkte sie es ja noch nicht einmal!

Nun saßen wir alle im Seminar und ich bemühte mich, den Teilnehmern das Wunder der beseeltenNatur nahe zu bringen, wie einfach es ist, Kontakt zu halten. Was uns alles an Erkenntnissen gegeben werden könne, die aus der Stille heraus sich in uns zeigen.

Da meldete sich die kleine Irma zu Wort und fing an zu erzählen: „Genau so ist das, wenn ich im Garten oder im Wald bin. Ich spreche die Pflanzen an und die antworten mir mit einem Gefühl wie Liebe. Manchmal gehe ich über eine Blumenwiese und dann fällt mir eine ganz eigene Melodie ein und manchmal auch ein ganz eigenes Lied und das singe ich dann, während ich über die Wiese gehe. Manchmal raten mir die Pflanzen auch etwas.“ Und sie erzählte noch weiter und ich saß da und hörte Irma zu. Mir stehen jetzt noch, während ich es schreibe, die Tränen der inneren Berührung in den Augen. Es war, das was sie sagte. Aber viel mehr noch die Art, wie sie es sagte. Es hatte etwas so Unspektakuläres und Beiläufiges. So ganz anders, als die Höher-Schneller-Weiter-Esoteriker, die sich laut und wortreich ihrer ach so besonderen Fähigkeiten rühmen. Sie hatte es erreicht. Klein Irma, die belächelte kleine Irma, hatte es erreicht. Lange vor uns allen. Sie stand in tiefem seelischen Austausch mit den Dingen – und es war ihr in absolut keiner Weise bewusst, dass es genau das war, was sie auf ihren Ausflügen oder in ihrem Garten erlebte. Ich hätte mich am liebsten verbeugt und gesagt: „Irma, bitte mach Du an meiner Stelle hier weiter, damit ich von Dir lernen darf!“ Aber das ging nicht. Würde man Irma auf ein solches Podest setzen, dann wäre alles weg. Müsste sie anfangen, darüber nachzudenken, dann wäre alles nur noch Ödnis. Über ihre „alltäglichen“ Erlebnisse zu berichten ging nur in dieser Beiläufigkeit, in der sie nie auf die Idee kommen würde, dass sie gerade etwas ganz, ganz Wunderbares erzählte.

Hätte man sie darauf hingewiesen, da wären alle äußeren Sorgen, Ängste und Zwänge auf sie eingestürzt. „Ogottogott“ SO außergewöhnlich ist das, was ich da sage? Ogottogottogott, jetzt bin ich aber nervös, mir schnürt sich der Hals zu. Alle schauen ja jetzt auf mich. Hoffentlich sage ich nichts Falsches oder noch schlimmer: Dummes! Ich kann da nie wieder drüber reden. Ich weiß da doch gar nichts von.“

Also ließ ich sie reden und hörte ihr zu. Kein Wort kam über meine Lippen. Und so ging Irma nun nach dem Seminar nach Hause zu ihrem kleinen ach so heimlich wundervoll beseelten Leben. Ganz unspektakulär.

So ist das mit den kleinen naiven Irmas dieser Welt. Es lohnt sich ihnen zuzuhören. Über sie zu lächeln haben wir keinen Anlass. Sie sind dort, wo wir mit all unserem Wissen niemals hin gelangen können. Sie besitzen etwas, was so mancher mit allem Gold der Welt aufwiegen würde, könnte er nur einen Schein davon erlangen.

Und was Irmas Ehemann betrifft: Den hatte sie damals vor die Tür gesetzt, als es ihr nach einiger Zeit zu bunt wurde. Auch auf dieser Ebene sollten wir die ruhigen, freundlichen und duldsamen Irmas nicht unterschätzen.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

Der Inhalt dieser Webseite darf zu nicht kommerziellen Zwecken unter Angabe der Webadresse im Zusammenhang frei verwendet werden. Kontakt könnt Ihr gerne über info@omkarnath.de mit mir aufnehmen.

Cookie Consent mit Real Cookie Banner