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Der alte Bauer

An einem Wintertag passierte ich auf einem Waldspaziergang eine unserem Hause nahegelegene, etwa einen Hektar große und im letzten Jahr „abgeerntete“ ehemalige Waldfläche. Nichts erinnerte mehr an den schönen, märchenhaften Laubengang, den die Büsche und Sträucher, schwer vom Schnee, mit ihren Ästen noch im letzten Winter auf diesem Weg mitten durch einen verschneiten Wald bildeten. Stattdessen lag zu meiner Linken ein Brachfläche von vielleicht hundert mal hundert Metern Seitenlänge. Ein paar wenige Kiefern standen noch krumm und schief wie Palmen in einer Wüste. Der Schnee trug sein Übriges zu diesem Eindruck bei und überdeckte zugleich gnädig die tiefen Wunden und Verwüstungen, die die schweren Erntemaschinen auf und in dem Waldboden hinterlassen hatten.

Im Laufe des vergangenen Jahres waren auf der Brache auch schon neue Stecklinge gesetzt worden. Eine Reihe Kiefer. Eine Reihe Buche. Immer im Wechsel und hintereinander. Reihe für Reihe. Zu ihrem Schutz war das ganze Gelände mit einem zwei Meter hohen verzinkten „Wildschutzzaun“ umgeben. Dieser Umstand führte unter anderem dazu, dass die Rehe, die vor der „Ernte“ dieses Stück Wald bewohnt oder zumindest durchstreift hatten, nun häufig an ganz anderen Stellen zu sehen waren. An Stellen, die wesentlich näher an den menschlichen Behausungen lagen, als sie es vorher taten. Es wurde eng im Wald.

Der Jungbauer des landwirtschaftlichen Betriebes, in dessen Besitz sich dieses ehemalige Waldstück befand, fuhr gerade mit seinem Traktor in Richtung Waldrand und der alte Bauer war soeben im Begriff, sich auf sein schwarzes Fahrrad zu schwingen. Irgendetwas hat es wohl an dieser Stelle zu tun gegeben.

Ich grüßte den Alten freundlich. Machte eine Bemerkung, dass er heute wohl ohne seinen Hund unterwegs sei. Eine belanglose Bemerkung. Harmlos. Wie über das Wetter reden. Ein Ritual, mit dem die Menschen sich gegenseitig ihrer guten Absichten und der Harmlosigkeit ihrer Begegnung versichern. Ich will Dir nichts Böses! Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Ein wichtiges, unverzichtbares Ritual. Gerade auf dem Land. Der Alte, wohl über 70 Jahre, klein, rüstig mit harten und trüben blass-blauen Augen, erwiderte etwas zu seinem Jagdhund in der im nördlichen Deutschland typischen etwas breiten Aussprache mit dem bemerkenswert rollenden R. Man könne den Hund ja nicht immer dabei haben. Es sei ein Baum beim Sturm von Außen auf den Zaun gefallen und nun seien die Rehe hineingegangen. Und dann sagte er, wirklich verwundert, fast nachdenklich – als wenn er eine Antwort suche: „Eigenartig. Wie die das immer finden. Diese Stellen im Zaun.“

Wir wechselten noch ein paar Worte über Zäune und Hunde, dann stieg er auf sein Fahrrad und folgte seinem bereits außer Sicht- und Hörweite befindlichen Sohn hinterher. Ich stand noch einige Zeit am Zaun und dachte über die Worte des Bauern nach. Wie ehrlich verwundert er doch über die Tatsache war, dass die Rehe die Lücken im Zaun finden. Bauern geben sich gegenüber Zugezogenen wie mir nicht oft verwundert. Sie sind eher reserviert, ein wenig selbstgerecht und unnahbar. Auf ihrem Land. Es war eine wirkliche Verblüffung, ein Nachdenken und nicht verstehen, das sich in seinen Worten, die er mit mir teilte, ausdrückte.

Wie konnte diesen Mann so etwas verblüffen?, fragte ich mich. Einen Menschen, der sein Leben lang in Feld, Wald und Flur lebte, der tausende von Rehen gesehen und sicher hunderte von ihnen auf der Jagd getötet und eine Menge von diesen später verzehrt hatte. Einen „Erzjäger“, wie man in dieser Gegend Menschen nennt, die oft und gerne auf die Jagd gehen. Für die die Freude am Töten zum Leben dazu gehört.

Und während ich dort stand und nachdachte begriff ich, dass die gesamte Natur für ihn nichts war. Die Felder, die er Jahr für Jahr mit Mais bebaute, auslaugte und dann mit Gülle wieder zum Leben erweckte. Die Rinder, die er mästete und verkaufte. Wesen, die in regelmäßigen Abständen vor Angst blökend aus ihren dunklen Ställen abgeholt wurden und durch andere ebenso blökende Wesen wieder ersetzt wurden. Der Jagdhund, der seine Existenz Tag ein Tag aus alleine in seinem Zwinger fristete. Der Wald, der samt Boden einfach durch gigantische Maschinen vernichtet wurde. Und auch die Tiere. Die chancenlosen Tiere, die von ihm Jahr für Jahr an den eigens dafür eingerichteten Fütterungsstellen von seinen Hochsitz herunter aus dem Hinterhalt erschossen wurden.

In dem Leben, das er führte, war ihm die Vorstellung völlig fremd, dass diese Tiere in der Lage sein könnten, an einem Zaun, der ihnen in den Weg gestellt wurde, entlang zu gehen und an einer Lücke die Richtung um 90 Grad zu ändern, weil sie die schmackhaften jungen Stecklinge als gutes Futter erkannt haben. Es wäre gar nicht nötig, diesen Rehen eine Intelligenz nach menschlichen Maßstäben zu zusprechen, aber nicht einmal die Fähigkeit, durch eine Zaunlücke zu gehen, wie sie auch durch eine Gebüschlücke gehen würden – wie denkende und autonome Wesen -, konnte der alte Bauer ihnen in seiner Vorstellungswelt zugestehen. Die Rehe waren nichts. Sie mussten nichts sein! Eine scheinbar zielgerichtete – denkende – Handlung erschien völlig verblüffend. Es erschien eigenartig, dass diese Tiere dazu in der Lage waren. Sie waren – wie sein Grund und alles, was sich darauf befand – doch nur seelenlose Betriebsmittel, mit denen er schalten und walten konnte, wie es seine Herrlichkeit wünschte. Vielleicht muss man aller Existenz alles absprechen – vielleicht muss man alles zu Dingen machen – , um ein Leben wie das seine führen zu können. Als ich das an diesem Morgen am Zaun stehend erkannte, war ich es, der verblüfft war. Verblüfft, über die lebenslange Ausblendung wesentlicher Aspekte seines Lebens.

Aber vielleicht ist es auch dieses Denken, das es vielen anderen Menschen erst ermöglicht, ihr Leben so fern der natürlichen Ordnungen in Kapital- und Konsumströmen zu verbringen. Die Natur als Nichts. Im schlechtesten Fall als Feind; Im besten Fall als Mittel zur Freizeitgestaltung. Dann aber auch dem Menschenwunsch entsprechend optimiert.

Es sei aber noch gesagt: Es ist eine gewisse Altersmilde, die sich jenes Bauern mit seinen harten Augen in zunehmenden Lebensjahren bemächtigte. In jüngeren Jahren hätte er das Verhalten der Rehe nicht des Nachdenkens wert befunden. Er hätte einfach den Zaun befestigt. Ein rein dinglicher Akt. Und er hätte einen Teufel getan, einem Zugezogenen ein solches Nachdenken – ja fast schon inneres Sinnen und Grübeln,…..Zweifeln… – mitzuteilen. Vielleicht gibt es Hoffnung.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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