Den Menschen des Altertums war es völlig klar. Wer die Sagen liest, die sie über ihre Götter aufgeschrieben haben, wird es ebenfalls erkennen: Selbst die Götter in all ihrer Größe und übernatürlichen Macht stehen einer Instanz gegenüber, der sie sich beugen müssen. Diese über allem stehende Instanz ist das Schicksal. Drei Frauen sind es oft, die den Schicksalsfaden spinnen, aufnehmen und dann – letzten Endes – zerreißen.
Der Gott kann seinem Favoriten in der Schlacht mit noch so viel trickreicher Hilfe zur Seite stehen, ihn mit unbändiger Kraft ausstatten oder dessen Gegner blenden: soll der Liebling des Gottes nicht siegreich sein, dann zerreißt das Schicksal dessen Faden – und der Gott muss es akzeptieren. Steht er doch selbst in Gefahr ansonsten vom Schicksal gestraft zu werden.
So steht das Schicksal über aller Schöpfung. Mensch und Gott müssen sich ihm gleichermaßen beugen. So wird der Magier, der die Geister und Götter zwingt, ihm zu Diensten zu sein, erfolglos bleiben, so wird der Heiler, der die Geister und Götter bittet, vergeblich beten, wenn das Schicksal diesen Faden nicht weiterspinnt.
Nun kommt der Mensch und setzt Stein auf Stein. Er fragt: „Habe ich das nicht selbst getan? Habe ich dies nicht aus mir selbst getan? Aus meines Willens Kraft? Sieh: Ich setze noch tausend Mal Stein auf Stein! Eine Mauer wird es! Ein Haus! Wo bist Du, Schicksal, um mich zu hindern? Warum soll ich Geister zwingen, die Dir doch nur Untertan sind? Warum soll ich zu Göttern beten, wo ich doch selbst viel mächtiger bin? Welche Angst soll ich vor Dir haben, Schicksal? Ich bin selbst mein Schicksal und setze ungehindert Stein auf Stein. Und hindert mich jemand dann doch, dann schneide ich ihm selbst den Faden ab! Ich bin das Schicksal selber, das dann über ihn kommt! Ich setze Stein auf Stein. Millionenfach. Und ich sehe, dass mich niemand hindern kann. Auch nicht Du, Schicksal. Auch Deine hilflosen, Dir dienenden Götter brauche ich nicht. Ich bin Euch entflohen.“
Und so folgt der Mensch seinem Schicksal und setzt Stein auf Stein. Abermillionenfach. Baut Mauer um Mauer und erfreut sich, die Fäuste in die Hüften gestemmt, am Anblick der steinernen Symbole seiner unabhängigen Macht. Und er vergisst das Schicksal. Und er vergisst, dass jedes Spinnen, Aufnehmen und Abschneiden des Fadens ein Kreislauf ist. Er vergisst, dass nicht nur sein Lebensfaden vom Schicksal bestimmt wird. Alle Fäden – alle Kreise – darunter und darüber, jeder Bruchteil einer Sekunde seiner Existenz wird vom Schicksal bestimmt. Gesponnen, aufgenommen,… abgerissen. Jeder Pulsschlag, jeder Atemzug und alles darunter und alles darüber hinaus. Alles ist Entstehung, Sein, Zerstörung, …und dann wieder Entstehung…Spinnen…
Was sind die abermillionen Steine, die er aufeinander setzt? Er tut es ohne Gott. Alleine deswegen ist es schon nur halb. Er tut es ohne Schicksal. So ist es nur noch ein Drittel. Was bedeuten diese Steine, wo das Schicksal doch alles über und unter ihnen wirkt? Ist der Mensch wirklich seinem Schicksal entflohen? Ist es so, wie er es tut – so abgeschnitten von den ewigen Wahrheiten – nicht wirklich nur Sand und vergängliche Asche? Und ist nicht er, der sein Leben voll und ganz diesem Tun widmet, am Ende nicht auch nur Sand und Asche? Oder betrügt er sich mit seiner Unabhängigkeit selbst und es ist nichts anderes als sein Schicksal, diesen Weg voller Einsamkeit inmitten seiner Mauern zu gehen?