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Bloß schnell durch Frankreich durch! – Eine Erkenntnis reiche Fahrt

Ich halte nichts davon, Hunde aus anderen Ländern hier zu uns zu bringen. Wir haben hier bei uns genug eigenes Tierleid. Damit sollte man sich befassen. Natürlich tun mir die ausländischen Hunde auch leid, aber die Tiere aus dem Ausland hier hinzuholen, davon halte ich nichts.“ Dieser Satz fiel vor genau zwei Wochen. An einem Samstag dem 7.12. auf der Geburtstagsfeier unseres Schwagers Tim in einer gemütlichen fränkischen Gaststätte. Er feierte im engen Familien- und Freudeskreis seinen 60sten. Gesagt wurde der Satz von Gerd, dem Familienoberhaupt einer befreundeten Familie aus Magdeburg. Es ging in dem Gespräch, in dem dieser Satz fiel, um unsere Hunde. Wir hatten Gerd und seine Frau das erste und bis dato letzte Mal auf Katrins und Tims Hochzeit vor acht Jahren gesehen. Wir wussten daher, dass sie selbst Hunde hatten und so bot sich das Thema als Smalltalk einfach an. Wir hatten Tim und seine Frau von unserer letzten Begegnung als sehr menschlich offen in Erinnerung. Jetzt, nach all den Jahren, schienen sie in eine mehr negative Gesamtsicht auf die Welt geraten zu sein. Einiges lief die letzten Jahre beruflich und gesundheitlich nicht so gut bei ihnen. Ich bin von Gerds Einwurf überrascht, bleibe aber vage. Ich bin kein wirklicher Freund mehr von Meinungen und dem vielen Recht haben und Ansichten haben und so weiter. Ich möchte über die Frage nicht diskutieren und stimme Gerd zu, dass es eine Position ist, die man öfters höre und dass andere wiederum eine andere Sichtweise darauf hätte. Jeder aus seinem Blickwinkel eben. – Abends im Wohnmobil denke ich wieder über Gerds unerwartete Worte nach und dann erst fällt der Groschen: Es ist einfach die alte Angst vor dem Fremden, das einem etwas wegnehmen könnte. Das Einigeln in der eigenen Gruppe. Es ist einfache Fremdenfeindlichkeit übertragen auf – Hunde! Ich kann es nicht so recht fassen und frage mich in einem kurzen Gedankenblitz, ob Gerd in der richtigen Gesellschaft auch „Ausländer raus!“ rufend unser Haus anzünden würde. Nein, das würde er nicht. Das ist jetzt übertrieben.

Ich kenne das Argument. Vor dreißig Jahren, da haben viele auch so gesprochen: ‚Wir haben genug eigene Probleme. Warum sollen wir uns auch noch diese fremden Leute aus dem Osten ans Bein hängen? Die kennen wir doch gar nicht und zu verschenken haben wir auch nichts. Wir haben genug eigenes Leid, das zu lindern ist. Natürlich brauchen die jetzt Hilfe, aber doch nicht von uns.‘ – Es ist doch schön, dass damals keiner auf die gehört hat, oder? Stell Dir mal vor, Gerd, es wäre anders herum gewesen.“ Das fällt mir an diesem Abend spontan als eine Erwiderung auf Gerds Ansichten ein. Ich finde es spitzbübisch schade, dass mir dieser Vergleich erst jetzt einfällt und male mir aus, ich hätte ihn Gerd, dem Magdeburger, in der Gaststätte als Antwort gegeben. ‚Quatsch.‘ denke ich sofort. ‚Unsinn. Wem hätt‘s geholfen?‘ Aber es hätte bestimmt gesessen…

Jetzt sind genau 14 Tage seit jenem Abend vergangen und ich sitze in einem Hotelzimmer mitten in Frankreich und denke wieder an jene Situation. Warum sitze ich hier? Warum denke ich an jene Situation? Wir waren noch eine Woche bei Katrin und Tim. Dann bin ich mit dem Wohnmobil mit dem Ziel Portugal aufgebrochen. Alleine. Ich bin auf dieser Fahrt das erste mal wirklich alleine im Ausland. Ich fahre nicht, um Urlaub zu machen. Ich fahre, weil es dem inneren Plan entspricht. Das muss dem „Ich“ nicht unbedingt gefallen. So ist das mit der Fügung und den inneren Plänen. Mein äußerer Plan war es gewesen, Frankreich in einem Schlag in zwei Tagen zu durchqueren. ‚Frankreich ist nicht das Ziel. Ich kann es links liegen lassen. Und außerdem: Ich will doch eigentlich sowieso gar nicht ins Ausland. Ich will gar nicht in diese problematischen Situationen kommen, wenn die Sitten anders sind und ich die Sprache nicht beherrsche. Die Franzosen sprechen dazu noch bekanntermaßen kein englisch, sondern nur französisch. Ich spreche kein französisch und nur englisch. Sehr schlechte Voraussetzungen. Schnell durch! Ein- zweimal anonym tanken. Das war es dann. Orewoar, Frankreich!‘ – Am zweiten Tag, mitten in Frankreich, reißt der Keilriemen an meinem Wohnmobil. – – – – – – – Ich muss ein paar Gedankenstriche machen, um mir die Situation selbst noch einmal auf der Zunge zergehen zu lassen. – – – Mitten in Frankreich. Alleine. – – – – und noch ein paar Striche. – – – – Das war vor vier Tagen. Seit vier Tagen befinde ich mich mitten in Frankreich. Und muss sprechen. Mit dem Abschleppwagenfahrer. Mit der Abschleppfirma. Mit der Werkstatt. Mit dem Hotel. Und keiner, wirklich keiner spricht mehr als drei Worte englisch oder traut es sich zu, mehr zu sprechen und verweigert sich. Das sind jedoch immerhin drei Worte mehr, als ich vor vier Tagen französisch sprechen konnte. Mit telefonischer Hilfe meines Schwagers, der lange in Südfrankreich gelebt hat, dem Automobilclub und dem Abschleppwagenfahrer, der ein Sprachengenie ist und neben vier anderen Sprachen auch perfekt deutsch spricht, obwohl er nie in Deutschland war (meine wirkliche Rettung!), habe ich alles irgendwie überstanden und irgendwie geregelt.

Anfangs brachte ich in Erfahrung, dass ich erst in zwei Wochen einen Werkstatttermin bekäme. Hier und auch bei Mercedes und auch anderswo. Erst in vierzehn Tagen. Bei einer Reparatur, die keine halbe Stunde dauern würde. Der ADAC hätte den Wagen kostenlos nach Deutschland zurückgeführt und ich hätte erste Klasse wieder nach hause fahren können. Nun gut. Dein Wille geschehe. Dann kam ich dahinter, dass es nicht am Unwillen der Werkstätten lag, sondern daran, dass die Ersatzteile hier nicht so schnell zu besorgen sind. Anders als in Deutschland dauert es in Frankreich viele Tage, bis man ein Ersatzteil bekommt. Die Teile wären einfach nicht mehr vor Weihnachten angekommen. Mit dem Wissen hat mein Schwager sie dann in Deutschland besorgt und per Express nach Frankreich schicken lassen, denn: ‚Wenn die Teile bis Montagmorgen da sind, dann machen wir das noch!‘ sagte mir die Werkstatt. Heute ist Samstag, die Werkstatt geschlossen und ich habe heute morgen vor der Werkstatt auf die Lieferung gewartet und mit Händen und Füßen redend den Expresskurier überzeugt, mir das Paket auszuhändigen, da die Teile darin für meinen Wagen bestellt worden wären. „Pake vor mich. Werkstatt ich bitten, Paket. Mir Auto reparier in Werkstatt. Teil sind. Da. Da. SMS bei DHL mit mich. Name. Hier. So ungefähr. Ein Ausländer eben. Und es hat geklappt. In Deutschland wäre ich wohl vor die Wand gerannt. Ach ja. Am Tag vorher wollte ich noch Geld am Automaten holen. Es war das erste mal und ich war nicht sicher, ob meine Bankkarte überhaupt angenommen würde. „Mal ja, mal nein“ hieß es aus verschiedenen Quellen. Schön, schön. Dann es am Besten schön schnell und anonym am Automaten in einer kleinen Bank versuchen. Schnell rein und schnell wieder raus. Und – – – prompt wurde meine Karte eingezogen und mit ‚anonym mal eben‘ war dann nichts mehr. Ich hatte noch nichts gemacht, außer die Karte einzuführen. Der Automat piepste ein leises Alarmsignal, druckte mir ungefragt eine kleine Quittung über den Einzug meiner Karte aus. Dieser Vorgang hatte etwas sehr Unerwartetes und Surreales an sich. Als wenn der Automat sich spontan und ungefragt für einen kleinen Tausch entschieden hätte. Meine schöne Karte gegen ein Stückchen Paier aus seinem Thermodrucker. Nun musste ich mit meiner kleine Quittung in der Hand an den Schalter. „Bonjour.“ Es gab damit keine Probleme. Die Dame holte meine Karte von hinten aus dem Automaten und wir versuchten es zusammen noch einmal. Es klappte diesmal! „Merci!“ sagte ich. Merci. Mein Wort. Sie lachte und sagte zu einer freundlich lächelnden wartenden Dame wohl so etwas wie, sie hätte ja nichts gemacht. Ich müsse mich nicht bei ihr bedanken. Aber ich hatte eben nur dieses Wort. Wieder alles mit Händen und Füßen. Aber worauf ich raus will: ich wollte bei Reiseantritt mit meinem äußeren Plan genau das vermeiden. Ich wollte nicht da stehen, wie der Ausländer „Karta… auf… ähhh…bei… automate, ja? Ja? Danke. Danke! Nix verstan, nix verstan bin.“ und der unsicheren Gnade dieser fremden Menschen ausgeliefert sein. Aber jetzt stand ich genau so in der Werkstatt, beim Expresskurier, in der Bank, im Hotel. Und: ALLE waren freundlich zu mir. Manche reserviert freundlich, wobei ich glaube, dass es ihnen einfach unangenehm war, dass wir uns nicht verständigen konnten, aber andere sogar herzlich freundlich. Der deutschsprechende Fahrer, ein kleiner algerischstämmiger junger Mann, manchmal ein Clown und Narr – so wie die wirklich innerlich wissenden Menschen manchmal sind – fragte mich immer „Hast Du Essen? Willst Du etwas Essen? Ich bring Dir was. Ruf mich an. Ich wohne nur zehn Kilometer entfernt. Willst Du bei uns wohnen? Wir haben viele Zimmer. Kein Problem. Ist doch natürlich!“ Immer habe ich lächelnd und viel dankend abgelehnt. Ich hatte ja das Hotel und ein Auto voll mit Essen. Selbst der Kurierfahrer, auch ein junger Araber: Sein „Aurevoir!“ war so herzlich, als verabschiede er einen Freund. Er hätte eigentlich Freitag liefern sollen. Dann hätte er das Paket schön in der Werkstatt bei den Franzosen abliefern können und ich hätte nichts damit zu tun gehabt. Aber nein: Wegen Unwetters ist er erst am Samstag gekommen, als die Werkstatt geschlossen war. Also hatte ich wieder einen ungewollten Auftritt und musste das Paket, vor der Werkstatt wartend, selbst in Empfang nehmen.

Nun sitze ich hier im Hotel und spreche schon ein paar Brocken – Bröckchen – französisch. Das Problem ist nur, dass ich die Antworten nicht verstehe.

Nun sitze ich hier im Hotel und betrachte diese Tage. Diese Tage, die ich im Herzen Frankreich verbringen darf. An denen ich Erfahrungen mache, wie ich sie nicht geahnt und – vor allem – nicht geplant hatte. Ich bin glücklich. Sehr glücklich, dass die göttliche Führung mich hier her gebracht hat. Ein bisschen teuer alles zusammen, aber es ist so wichtig gewesen, dass ich in dieses kalte Wasser geworfen worden bin. So wichtig! Ich freue mich, dass ich alle diese reserviert freundlichen und geschwisterlich herzlichen Menschen kennenlernen durfte. Dass ich all die anderen Sitten erfahren durfte, die sich doch so von unseren deutschen und so schön gewohnten unterscheiden. Ich bin so glücklich, dass mein Angst-Plan, die Turbo-Durchreise durch Frankreich, nicht aufgegangen ist. Wir müssen keine Angst vor dem Fremden haben. Nicht aus Prinzip. Ich soll auf dieser Reise meine letzte Angst verlieren. Jetzt sitze ich hier, drei Tage vor Weihnachten, alleine mitten in einem fremden Land und bin doch nicht allein – und muss an den Satz von Gerd denken. Gerd und seine Frau sind allein. Trotz ihrer Familie, die sehr stark zusammenhält. Der Schmerz des scheinbaren Getrenntseins ist es immer wieder, der die Angst erzeugt.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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