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Wenn Stefan Zweig Tolstoi hätte fühlen können

Stefan Zweig, der so tief Fühlende. Dem seine Verbundenheit mit den Menschen immer auf psychologischem Wissen, auf Analyse, gegründet erschien. Erschossen hat er sich 1941 im brasilianischen Exil. Fühlte zu viel. Zu viel des Weltenleids dieser Zeit. Keine psychologische Analyse war daran beteiligt, an dieser seiner Depression. Geflutet hat ihn die Dunkelheit, die Zerrissenheit, die Angst, die Hilflosigkeit der Menschen der Welt.

Und wie hat er ein Jahrzehnt zuvor Tolstoi und dessen zweites Lebenswerk, sein religiöses Erkennen, mit von ihm ungekannter Selbstgerechtigkeit und Härte niedergeknüppelt. Hat nicht erfahren können, in seinem lebenspochenden, herzwarmen, künstlerischen Wien, dass es wirklich nur den einen Weg zur Rettung der Menschheit gibt oder, da er so ungewohnt laut geworden bei dem Thema, es sich vielleicht nicht hat eingestehen wollen: Die Erkenntnis der Sinnlosigkeit der Existenz im Eigennutz und den einzig erlösenden Weg von der Gewalt hin zur Hingabe. Und nur zur Hingabe. Hinweg mit allem äußeren Schattenspiel, das doch nur dem Einzelnen, was doch nur dem Kampf – und sei es der um die Beherrschung der Welt durch Wissenschaft – dient.

Zweig, der so tief Fühlende konnte Tolstois Erwachen nicht fühlen zu der Zeit. Hielt es für die überspannten unlogischen Worte eines Mannes in den männlichen Wechseljahren. Unwürdig der großen Werke aus seiner ersten Lebenshälfte. Aus der Distanz konnte er nicht fühlen. Die pulsierende Stadt dämpfte all dieses zarte Senden von Tolstois Worten, dem hinter den Worten und noch – für Beide nicht zu erkennen – dem hinter den Gedanken ab.

So fehlbar und linkisch der Denkmensch Tolstoi, der Intellektuelle, der die Welt im kleinsten Detail Beobachtende, der Verstandesmensch, sein inneres Wissen präsentierte und zu leben versuchte, so wahr war aber der Lichtstrahl des Göttlichen, der ihm in sein Auge fiel.

Zweig sah nur die Umsetzung Tolstois Lehre durch diesen selbst und dessen Versagen darin. Dass Tolstoi nur aufzeigen, in die Welt bringen und das Tun Anderen überlassen musste, das haben beide nicht erkannt. Tolstoi verzweifelte daran, Zweig sah dieses verzweifelte Scheitern als Beweis der Unerfüllbarkeit der Lehre.

Im Wahnsinn des alles erschütternde Weltkrieges hatte Stefan Zweig keine Antworten mehr. Kein inneres Wissen, das ihn hätte erlösen können.

Einige Monate in einem buddhistischen Kloster oder in Gegenwart eines indischen Meisters, Zweig, der Fühlende, er hätte die Wahrheit Tolstois – fern ab des Trubels der Begierden und der Eitelkeiten – dort vielleicht selbst erfahren. Und vielleicht hätte er dann, damals, in Brasilien, seinem Leben kein Ende machen müssen… Hätte nicht am Ende der Sackgasse stehen müssen, in welcher der Mensch hilflos steht, der sich sein Leben lang immer nur auf das Äußere stützte und nun mit entsetztem Blick, paralysiert, der Vernichtung seiner materiellen, so geliebten, ihm so einzigen Welt ins Auge blicken muss.

Niemals darf der Schmerz uns leiten. Unser Handeln erwächst aus dem angstlosen Wissen um unsere Geborgenheit im Sinn, um unsere Beseeltheit und um die ewige Einheit von allem. Wir handeln immer in Liebe zu allem und jedem. Es existiert keine innere Trennung. Niemals darf der Schmerz allein uns leiten.

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